Phase 3
Am Anfang war das Staunen. Zuhause von dem kleinen Kasten aus die Welt erobern, tausend neue Möglichkeiten entdecken und Tränen lachen über die sich entwickelnde Verstümmelung der geschriebenen Sprache. Das Unverständnis der Unwissenden bestärkte mich nur in dem Taumel, einen Vorsprung zu haben, einige Jahre in der Entwicklung und hunderte von Mark in der Telefonrechnung voraus zu sein. Es war Ekstase, eine spielerische Art zumindest, und dann gab es da diese vielen praktischen kleinen Dienstleistungen, mit denen man selbst Skeptikern ein wenig anerkennendes Staunen entlocken konnte: Bücher bestellen, die Telefonauskunft benutzen und E-Mails schreiben. Das taten ja noch nicht soviele. Und die es taten, die hatten wiederum nicht soviele, mit denen sie das tun konnten. Es hatte schon irgendwie was.
Dann kamen mehr und mehr der anderen online und es kam auch die Sucht. Ganz unmerklich, über Monate, entwickelte ich mich zu einem Wesen, das in kurzen - sehr kurzen - Abständen in nervöse Zuckungen verfiel “ich hol mal eben meine Mail ab”. Mein Trampelpfad durchs World Wide Web hatte nie eine Chance, zuzuwuchern, denn immer wieder und wieder besuchte ich die Seiten, die den Weg in meine Bookmarks gefunden hatten. Quittierte mit hastigem Lesen neue Einträge und nahm es genervt zur Kenntnis, wenn ich kein Update vorfand. Morgens. Mittags. Abends. Nachts. Und dann die Kontakte, die Freunde und Bekanten: Wir hatten Spass, oh ja!
Stundenlanges Herumhängen online ist verdammt unterhaltsam. Virtuelles Kichern, gemeinsame Projekte, Mailinglisten, Treffen, Mailfreundschaften und Gästebucheinträge. Community, nennt man das wohl. Unerklärlich im Nachhinein, wieso manches so WICHTIG schien, so krankhaft süsslich wohltuend kann Harmonie sein. Eine Freundschaft, die Lügner und Betrüger in ihre zuckerwattigen Arme nimmt um der allgemeinen Harmonie willen, die setzt den Maßstab so tief, dass sie durch die Maschen fällt. Schwäche oder Geltungssucht oder beides? Verachtung wallt auf und geht wieder, hinterlässt Gleichgültigkeit. Was soll’s. Das Leben an sich ist eigentlich wichtiger. Wenn da nur die Sucht nicht wäre, die einen wieder und wieder online treibt, zu den Mailbergen. Zu den Webseiten. Unbefriedigend, aber anhaltend. Gefangen im Netz. Im Zeitfresser.
Irgendwann erwischst Du Dich dann dabei, wie Du einen Journalisten von oben herab abkanzelst, nur weil er das Pech hatte, der dritte in dieser Woche zu sein. Und erschrickst. Nie wolltest Du werden wie die Grossmäuler und Kittelschürzen des Webs, die nichts sind und niemals wirklich etwas sein werden - dies aber längst vergessen haben, weil sie in ihren schmierigen Pfoten einen virtuellen Zipfel halten, den sie kontrollieren. Als hätte es auch nur die geringste Bedeutung, ob jemand 100 oder 1000 Besucher am Tag auf seiner Homepage hat, die keinen echten Job ersetzt, kein echtes Leben. Der Journalist nimmt die Entschuldigung verblüfft an und kann nicht verstehen, wieso er nicht in Deiner Wohnung filmen darf. Wo Du doch sooooo bekannt bist online. Du zuckst nur noch die Schultern.
Alle Mailadressen vorübergehend abschalten bringt Erleichterung. Die Freunde bitten mich, zurückzukommen und so aktiviere ich wieder eine offizielle, eine private Mail. Es ist schön, dass keine Mail-Lawinen mehr auf mich einprasseln und dass niemand mehr verbindlich eine Antwort von mir erwarten kann. Ich habe für mich beschlossen, dass ich niemals wieder jemandem eine Antwort schulden werde - es war schliesslich nicht meine Idee, dass fünfhundert Mails die Woche bei mir eintrudeln, ich hatte nie darum gebeten. Meine Seiten schweben frei im Netz, der innere Drang zum stetigen Update ist verflogen. Es gibt auch keine Homepage mehr, die ich meine besuchen zu müssen. Ich bin in Phase 3 eingetreten 😉 und ich geniesse sie in vollen Zügen. Das Leben hat mich wieder und das Web auch. Auf meine Art. Nicht auf Eure. Wie in einer Stadt, deren Infrastruktur ich nutze.
Vielleicht durchläuft jeder dieser Phasen, der sich kopfüber ins Web schmeisst. Vielleicht bleiben auch die meisten zwischen Phase 2 und Phase 3 kleben, kurz vor der Erkenntnis fehlenden Tiefgangs? Dagegen spricht ja auch nichts, das ist weit angenehmer als die muffelige Grotte überheblicher Besserwisser. Gerade jetzt ist es sehr angenehm, nicht mehr ein bekennender “Online-Junkie” zu sein, sondern es den anderen zu überlassen, sich im positiven oder im negativen Sinne am Web aufzureiben.
Die Trennung zwischen echter und virtueller Welt dürfen aber meinetwegen auch die anderen vollziehen. Diejenigen, die sich das Internet noch wegdenken können aus ihren Leben 😉
Noch keine Kommentare → Phase 3Am Anfang war das Staunen. Zuhause ...