Kurzgeschichte: Notti Bianche

Sie fragte mich etwas und redete dann sofort weiter, ohne die Antwort abzuwarten, und ich nickte nur. Mein Herz schlug so laut und deutlich, dass ich mich nicht auf das Gespräch konzentrieren konnte. Ich zählte in Gedanken die Flaschen der Hausbar und die Tabletten zusammen, die ich genommen hatte, ohne dass der Schlaf zu mir gekommen war.

Die Summe ergab keinen Sinn, aber das tat Elisabeths Geplauder auch nicht. In meiner Brust schlug schwer und saftig ein geschwollener Klumpen viel zu schnell, und es war sehr wichtig, dass ich darauf achtete. Auch wenn die Erinnerung an das Warum sanft ganz weit außen an den Rändern meines Bewusstseins entlang segelte.

Elisabeth schüttelte mich sanft und drückte mir ein Wasserglas in die Hand. “Hier, gegen dein Kopfweh. Auf einmal runterschlucken!” Gehorsam leerte ich das bitter gefüllte Glas und lehnte den Kopf zurück an die geflochtene Rückwand der Bank.

Die Kinder waren damit beschäftigt, den Inhalt von Elisabeths Handtasche in den Zimmerspringbrunnen zu leeren, die anderen Gäste im Café achteten so wenig darauf wie ich. Elisabeth selbst hatte ihren Nachwuchs unbeaufsichtigt im Rücken und versuchte statt dessen, mich zu erziehen.

“Du hast schon wieder diesen Blick drauf!” sagte sie anklagend. “Woran denkst du?” Ich hatte keine Lust, ihr zu erklären, dass das wuchtige Schlagen meines Herzens mich zu der Überlegung veranlasste, ob auch andere Frauen links eine leichter erregbare Brustwarze hatten und ob eine flachbrüstige Frau sich manchmal vorstellte, ihre eigene weiche Schwere beruhigend in der Hand halten zu können.

Elisabeth hätte diese Gedankengänge nicht verstanden, oder schlimmer noch, wieder über Selbstverwirklichung und sorgfältig erarbeitete positive Körpergefühle gesprochen.

Dabei war einzig und allein mein Nippel hart wie eine Haselnuss, sonst nichts. Und nicht nur der linke, aber unter dem linken klopfte das Herz so laut, dass ich mich beinahe an das erinnern konnte, woran ich unbedingt noch denken musste. Es war ein Datum. Oder doch ein Gesicht?

Der Kellner brachte den doppelten Espresso, den wir immer tranken und einen Sekt auf Kosten des Hauses, was nichts mit dem zugerümpelten Zimmerbrunnen zu tun haben konnte, es musste etwas anderes zu feiern geben.

Nicht für mich allerdings, ich hatte immer noch mit der Inquisition zu tun. Elisabeth musterte mich scharf, während sie ihren eingeweichten Tascheninhalt auf der Bank ausbreitete, um trocken zu tupfen, was zu retten war. “Hast du nicht gestern noch gesagt, du würdest nicht mehr an ihn denken? Wir hatten doch darüber gesprochen.”

Wir hatten darüber gesprochen und das machte die Gedanken dann weg. Das schien mir so absurd, dass ich zu kichern anfing. Das Lachen hallte in meinem Schädel schmerzhaft wider und ich schloss die Augen, um zu jenem gleißendhellen Ort zu gelangen, den ich an jedem Morgen nur zögernd verließ.

Nicht immer aufrecht sein müssen. Niedersinken auf die Knie mit seiner zärtlichen großen Hand im Nacken, endlich ankommen dürfen in der perfekten Mischung aus Hingabe und Forderung und ...

“Schau dir den an, der ist doch wohl zum Niederknien!” weckte Elisabeth mich sehr passend und doch an meinem Tagtraum völlig vorbei. Das Objekt ihrer Begierde warf sabbernd seinen Schnuller zu Boden und quäkte. Nun würden wir die nächsten drei Stunden über Kinder, Haushalt und die intellektuellen und gesellschaftlichen Anforderungen an Hausfrauen sprechen müssen, wenn ich mich nicht sehr beeilte.

“Kennst du das”, fragte ich eilig, “wenn du in einer Menschenmenge hier und da und dort vereinzelte Gesichtszüge deines Geliebten an Fremden wiedererkennst, die ihm nicht ähnlich sehen, in Details aber doch ... und diese Ähnlichkeiten tun ein bisschen weh, so als ob er nicht einzigartig ist, aber er ist es doch und du weißt es auch trotzdem?”

Elisabeth sah eigentlich so aus, als müsste man ihr ganz frisch erläutern, was Sehnsucht ist. Es konnte doch nicht sein, dass sie es vergessen hatte, so etwas vergaß man doch nicht? “Er ist tot, er kommt nicht wieder” erklärte sie mir in dem sanften Tonfall einer schwer geprüften Frau, deren Bemühungen niemand zu schätzen weiß.

“Sag mal, wie viele dieser Kopfschmerztabletten hast du dir da ins Glas gebröckelt?” Ihre Tochter Miriam, ein schlaues kleines Mädchen, zählte an ihren dreijährigen Fingern leise flüsternd zweimal im Kreis ab, aber sie schwieg dann und hopste wieder zum Zimmerbrunnen zurück.

“Zwei”, sagte ich. “Vielleicht drei.” Mein Herz schlug dumpf und dann setzte es einmal aus. Schlug holpernd weiter. Vielleicht musste ich mich daran erinnern, dass es weiterschlagen sollte. Vielleicht war es aber auch das, woran ich denken musste: Dass jedes Herz auch einmal eine Pause braucht.

Ich leerte mein Glas und bestellte den ersten Cognac meines Lebens, und zwar einen doppelten. Das freute Elisabeth. “Weißt du, er würde nicht wollen, dass du in so einem trauernden Wachkoma weiterlebst.” sagte sie eifrig und beobachtete erfreut, dass ich auch ihren dieselschwarzen Espresso leerte.

Manchmal hatte eben auch Elisabeth recht.

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