Zungentanz

Wie wichtig war der erste Kuss, fragt sie mich und ist dabei so sechzehn, wie ich es niemals war. Ich öffne den Mund für eine spontane Antwort und schließe ihn wieder. Erst muss ich überlegen.

Es gibt den ersten Kuss, und dann noch den ersten echten, wichtigen Kuss. Welcher zählt? Das feuchte Herumstochern, das der große Bruder der besten Freundin sich kaum traute. Der Zungennahkampf bei »Wahrheit oder Pflicht« in der Waldhütte unter dem Sichtschutz der miefenden Karodecke oder der Gutenachtkuss vom Kumpel, der unerwartet ein Upgrade erhielt?

Ich entscheide mich für die Antwort, dass von Bedeutung nicht der erste Zungen-Zwischenfall ist, sondern der erste echte Kuss, der sich genau richtig anfühlte. Dann zählt es nicht, wer den ersten Schritt gemacht hat, ob die Umstände ideal waren oder ob man ihn nur geträumt hat. Welcher Kuss, wird man sofort wissen, wenn es passiert. Er ist so unvergesslich, dass man darüber nicht nachdenken muss, welcher es ist.

Sie fragt noch einmal vorsichtig nach, ob ein geträumter Kuss wirklich auch zählt und ich weiß, dass sie Angst hat, ausgelacht zu werden.

Ja. Wenn es der richtige Kuss ist, weiß man es.

Damit gibt sie sich zufrieden.

*

Er war der männlichste Mann, den ich jemals gesehen hatte. Das war nicht weiter bemerkenswert, trottete ich doch mit geschlossenen Augen durch ein Kleinstadtleben, zwischen sommersprossigen Altersgenossen und schlaksigen Bauernsöhnen an BWL-Poppern vorbei, die sich alle miteinander für meine Gefühlswelten nicht als männlich identifizierten. Nur als gleichaltrige Jungs.

P. war anders. Für Muskeln wie seine verbrachten die bodybuildenden Angeber der 80er viel Zeit vor Studiospiegeln - er hatte sie einfach. Wie die grünen Augen, blonden Locken und das unverschämteste Grinsen der Welt. In Jeans und engem weißem T-Shirt stand er auch bei Schnee und Minustemperaturen hinter der offenen Verkaufstheke und brachte der weiblichen Hälfte der Stadtbevölkerung den Verzehr von Pizza to go näher.

Meine Freundinnen fanden ihn umwerfend und pilgerten täglich für einen Snack vorbei. Ich ging mit, obwohl ich ziemlich pleite war und daher eine Leidenschaft für einfache Pizza Margherita entwickeln musste. Dann standen wir im Schnee vor der Verkaufstheke und taten so, als würde man dort am Straßenrand in der Innenstadt besonders gut plaudern können, während sie ihn beobachteten und beim Hochwerfen jedes Teigflatschens kicherten und quietschten, wie gnadenlos süüüüüß er doch sei.

Ich schaute woanders hin. In die Scheibe vom Kaufhaus gegenüber, die ausreichend reflektierte.

Süß fand ich ihn nun nicht. Gefährlich gut aussehend, doppelt so alt wie nötig und ein bisschen zu lässig, als das man sich in seiner Nähe je auch für kurze Momente hätte entspannen können. Ein Raubtier, seiner selbst sehr sicher und immer umlagert von interessierten Damen, auf die er nicht wirklich einging. Nein, zum Quietschen süß fand ich ihn wahrlich nicht. Nur atemberaubend gefährlich und unendlich interessant. Ich beobachtete ihn so wie die anderen, nur ohne jede Illusion.

Denn wenn ich auch nicht viel wusste, eins war mir völlig klar: P. war für mich so unerreichbar wie der Mond. Er war nicht nur älter, zu attraktiv um wahr zu sein und gebaut wie Mädchenkryptonit, er sprach auch kein Wort Deutsch und ich kein Italienisch. Die schönsten Frauen umschwärmten ihn aktiv, und ich war nicht schön. Vor allem aber stakste ich auf 182cm durch die Gegend, an kühnen Tagen noch zusätzlich mit High Heels ausgestattet … und dieser hinreißende Mann war einen ganzen Kopf kleiner und wurde durchgehend von einem halben Dutzend Standard-Barbies umschwärmt. Warum sollte er sich mein Kinn von unten anschauen?

So fern war P und so unerreichbar für mich, dass ich mir das Tagträumen nicht mal aus Sicherheitsgründen verbieten musste. Stumm kaufte ich meine Pizza, schweigend aß ich sie. Nach drei Wochen traute ich mich, ihn in der Dorfdisco zu grüßen, als würden wir uns kennen. Nach einer weiteren Woche grüßte er zurück. Mir war schon klar, dass das nichts zu bedeuten hatte. Trotzdem holte ich mir dann keine Pizza mehr und besuchte auch die Disco nicht mehr.

Bis zur Silvesterparty. Irgendwer hatte erzählt, dass P. arbeiten müsse, was ja soooo ungerecht sei allen gegenüber, die sich schon auf ihn gefreut hatten. So ging ich tanzen, auf hohen Schuhen und hungrig, damit ich später vielleicht noch einen Grund hatte, mir eine Pizza zu holen. Tanzte stundenlang, schaute mich erst um kurz vor Mitternacht nach den anderen aus meiner Clique um … und fand als ersten Bekannten P vor, der an der Bar saß und mich so anlächelte, dass ich mich zuerst noch fragte, wer wohl hinter mir steht. Im Sitzen war er noch kleiner. Neben ihm saß Superbarbie, ganz in pink, die Hand besitzergreifend auf seinen Ellbogen gelegt.

Mir blieb nichts anderes übrig, als aufs Klo zu gehen und eine Weile in den Spiegel zu starren. Hilfe war von dort nicht zu erwarten, immerhin ging das alte Jahr endlich weg und das neue kam unauffällig zur Tür herein. Schließlich entschied ich, auf das sichere Terrain Tanzfläche zurückzukehren, bewusst ohne mich auf dem Weg dorthin umzusehen. Also tanzte ich, bis ein fremder Mann kam, mich an den Rand der Fläche winkte und mir sagte, er habe etwas auszurichten. Der Herr G könne momentan noch kein Deutsch, wolle mir aber gerne durch ihn mitteilen lassen, er habe eine Treppe gefunden.

Eine Treppe. Gefunden. »Was geht mich das an, was soll das?« schnippte ich den nach Wein riechenden Fremden an, denn wer Herr G war, das musste ich nicht mehr fragen. Er zuckte die Schultern und zeigte hinter mich: »Es ist diese hier.«

Natürlich drehte ich mich spontan, um diese bemerkenswerte Treppe zu sehen … mitten hinein in muskulöse Arme, die mich festhielten und nicht mehr losließen. In einen Geruch von Wärme, Rauch und Lebendigkeit und P und vor allen in einen Kuss, der das Cover eines Nackenbeißer-Romans geehrt hätte. Durch Intensität und Dauer, vor allem aber durch den perfekten Winkel. Dank Treppenstufe.

Wie sich in den kommenden Wochen herausstellte, war Herr G auch in der Lage, Bordsteine, Gartenzäune, gepflasterte Umrandungen und noch viele weitere Treppen zu finden. Aber das ist eine andere Geschichte.

 

16 Kommentare Zungentanz

  1. Avatar Chronistin 30.09.2008 um 22:40 Uhr

    ...und dabei ist doch gar nicht vollmond? 😉 - diese wunderbare geschichte hat perfekt zur neuen emmylou-harris-cd gepasst, die ich grade entdecke; danke für’s mitleben lassen! (Der eigene erste? - Sibenik, September ‘83, alles schmeckt nach Meersalz und Sommerende, und besser hätt’s gar nicht sein können… vielleicht schreib ich da auch Mal was)

  2. Avatar Remington 01.10.2008 um 12:15 Uhr

    Ich suche immer noch für eine Geschichte nach der Beschreibung für den perfekten Kuss. Jetzt bin ich ein bißchen näher dran, dankeschön.

    Traf mal jemanden. Wir schlenderten rum, dann traf er sie und ich war nur noch Staffage. Ein Kuss und er sagte leise zu ihr: “Du bist immer noch der Maßstab.”

    DEN hätte ich fragen sollen.

  3. Avatar muh-muh 02.10.2008 um 11:45 Uhr

    Immer, wenn ich diese wunderschönen Geschichten von Dir lese. denke ich am Schluß: “Nein, bitte nicht aufhören, bitte nicht aufhören, bitte bitte nicht.” 8}

    Schönes Wochenende. 😊

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