Zielbahnhof

An einem Mittwochnachmittag zwischen 15 Uhr und 15 Uhr 7 traf Sabine im ICE nach Göttingen die große Liebe ihres Lebens. Sie hatte immer die Befürchtung gehabt, dass er ihr doch noch begegnen würde, nachdem sie pünktlich bis Mitte 30 dem biologisch abbaubaren Ticken ihrer Eierstöcke gefolgt war und noch vor Toresschluss ihren Hammel ins Trockene geschafft hatte. In ehrlich gemeinter und aufrichtig zärtlicher Zuneigung selbstverständlich, nur Die Ganz Große Liebe war es eben nicht. Die Ganz Große Liebe trug lässige Jeans, ein graues, dennoch edles Hemd und schräg geschnittene blaugrüne Augen. Er hielt ein Marketingbuch in der Hand, hätte lieber im Raucherabteil gesessen und obwohl ein fieser kleiner Mann im überteuerten Anzug ihm beharrlich ins Ohr quatschte, konnte sie ohne jeden Zweifel erkennen, dass er es ebenfalls wusste: Sie waren füreinander bestimmt.

Die Landschaft schob sich am Fenster vorbei, während Sabine dem warmen Kribbeln in ihren Lungenspitzen hinterher horchte und nur die Augen schließen musste, um Hand in Hand mit ihm den gleißend hellen und doch Geborgenheit ausstrahlenden Raum am Rande des wachen Bewusstseins aufzusuchen, der für Liebende reserviert ist. Fast sieben Minuten lang badete sie ihre Seele in dieser Wärme, während seine Hand sachte ihren aufs Knie hochgelegte Fußknöchel umschloss, zwei Finger auf ihrem Puls, die Augen geschlossen wie sie selbst. Als die Durchsage kam, sahen sie sich an. »Du musst aussteigen.« sagte er und sie legte schnell eine zärtliche Zeigefingerspitze auf seine Lippen, als sie merkte, dass er noch mehr sagen wollte als das Offensichtliche. »Bitte nicht. Ich will nicht wissen, wie du heißt.« Sie verstanden sich auch fast wortlos so gut, dass sie nur wenige halbe Sätze gebraucht hatten, um sich darauf zu einigen, dass es mit zu viel organisatorischem und emotionalem Aufwand verbunden wäre, wenn sie nun für immer zusammenbleiben würden.

2 Kommentare Zielbahnhof

  1. Avatar Matthias 27.10.2004 um 01:56 Uhr

    Mir fällt dazu ein Song aus dem Musical Linie 1 ein.

    Du sitzt mir gegenüber.

    Was wissen wir vom anderen. Am Morgen in der S-Bahn. Im Supermarkt an der Kasse. In der Kneipe am Nachbartisch. Es ist ein Blick. Ein Lächeln. Aber warum überwinden wir nicht eine Hemmschwelle.

    Einmal bin ich nicht die Rolltreppe runtergefahren sondern bin wieder umgekehrt. Wegen einer Person am Stempelautomat. Den Rest der Story behalte ich für mich. Aber warum tun wir das nicht öfter?

    Sehr schöne Story von dir. Leider sehr traurig.

  2. Avatar Melody 27.10.2004 um 15:39 Uhr

    Nein, die ist nicht traurig. Das ist eigentlich eine sehr lustige Geschichte. Jeder kriegt, was er verdient - und wer berechnend an die Liebe herangeht, natürlich ebenso. Ich finde es mehr als OK, dass Bequemlichkeit und Oberflächlichkeit sich in der Regel nur untereinander paaren und betrachte wohlwollend die eisige Einsamkeit von standardisierten Hohlkörpern, die meine Ansicht nur bestätigen kann.

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