Dicker als Wasser

In ungefähr meiner Stunde treffe ich meine “Freundin” wieder. Die Anführungszeichen hat sie sich redlich verdient, aber wie soll man auch jemanden nennen, der lange Nadeln in fremde Armbeugen bohrt und dabei missgelaunt vor sich hinstochert wie andere mit Zahnstochern nach Speiseresten? Vielen Blutsverwandten dieses blondierten Gestrüpps (und zu vieler Blutspenden der Vergangenheit) habe ich es zu verdanken, dass meine Venenfundgruben aussehen wie Kraterlandschaften. Eine Stelle gibt es noch, an der selbst die Unfähigsten fündig werden und Kübel voll dunkelrotem Blut abzapfen können, und diese hege und pflege ich sorgfältig und creme sie regelmässig ein.

Beim letzten Besuch, noch gar nicht lange her, wurde ich mit vielen unruhigen und besorgten wartenden Mitpatienten statt einer Radiosendung oder der Lektüre in seltsamen Zeitschriften durch eine Live-Sendung aus ihrem Leben unterhalten, denn sie telefonierte ungeniert geschlagene 18 Minuten lang privat, während sich um sie herum ungeduldige Kollegen und Notfälle deckenhoch stapelten. Schön, so wissen wir nun alle, wer wie viele Haustiere hat und warum und wer weshalb umzieht und wann. Die zahlreichen Kolleginnen sind übrigens fast durchgehend nett und höflich, was ja nun bei Arzthelferinnen eine große Ausnahme ist. Wenn man mithören kann, wie eine über 80 Jahre alte Dame hilflos am Telefon mehrere Minuten lang vergeblich versucht, die Handy-Nummer ihrer Tochter aufzuschreiben, während so eine Dauerwelle gemütlich über dem Tisch hängt und ihre Privatgespräche führt, weiß man zumindest schon mal, an wen man sich nie mit einer Frage wenden würde.

Die Blutabnahme erfolgt in einem winzigen Kämmerlein neben dem Untersuchungszimmer. Dort passen praktisch nur die Arbeitsplatte, ein winziger Stuhl, ein Hocker und zwei normal gebaute Personen hinein. Würden passen. Struppi, wie ich sie der Einfachheit halber nennen möchte, ist nicht zierlich und wahrscheinlich wird sie gerade deswegen so hochgradig aggressiv, wenn ich ihr in aller Seelenruhe immer wieder aufs Neue erkläre, dass ich zu schwer für den Campingstuhl aus Blech bin und bei der Blutabnahme deshalb auf dem einfachen Hocker sitzen möchte. Mir macht das nichts aus, denn ich habe nicht vergessen, wer hier der Kunde ist und überhaupt bin ich ein Leben lang daran gewöhnt, mich erfolgreich mit fettfeindseligen Dummbratzen herumzuschlagen.

Aber interessant ist es doch. Während sie beim ersten Mal noch ein entnervtes Stöhnen von sich geben wollte, benimmt sie sich inzwischen fast normal. Ich habe ihr lächelnd erklärt, dass ich es nicht so schlimm fände, mal kurz auf einem Hocker zu sitzen - ich würde es schon lange nicht mehr übel nehmen, wenn keine guten Möbel zur Verfügung ständen und man sich flexibel anpassen muss auch an eine so schlecht und unkomfortabel eingerichtete Sitzumgebung.

So hatte sie das wohl noch nie gesehen: Dass die Möbel zu klein sind und sich nicht qualifizieren. Ihr Mund hing halb offen und sie betrachtete mich mit einer Mischung aus Erstaunen und widerwilliger Anerkennung. Wird halt umdenken müssen, und nicht nur sie, denn ich beabsichtige keinesfalls, mich wegen irgendwelcher Kinderstühlchen befangen zu fühlen. Warum auch? Weil Frauen, die mit ihrem Körper unzufrieden sind, generell leichter dazu bereit sind, dicke Menschen/andere Frauen zu verachten und diskriminieren? Not my problem. Das steht wohl fest.

Korrektur: In ungefähr 45 Minuten wird sie eine Nadel in die kostbare letzte Vene links rammen. Es sei denn, ich geh nicht hin. Andererseits. Was bleibt mir übrig? Ich sehe gerne zu, wenn jemand eine lange Nadel in mich schiebt und kleine Gefässe mit dunklem Blut füllt. Und wo ich doch so gerne ein neues Pflaster in der Armbeuge haben möchte. 

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