Der schlimmste Silvester-Abend oder: Als ich mal mit dem Samba-Zug nach Kobern-Gondorf fuhr

Jetzt, wo ich diese Überschrift lese, will ich es eigentlich selbst nicht mehr so richtig glauben. Es war aber so: Silvester 1993, ausgerechnet kurz nach dem Mosel-Hochwasser, das auch Kobern-Gondorf tief unter Wasser gesetzt hatte. Das war dann auch das Jahr, in dem ich kurz vor Ende noch lernte, dass man den falschen Mann hat, wenn er angesichts einer solchen Überflutung erbittert darauf besteht, die kostbaren Karten für das geplante Silvester-Event keinesfalls verfallen zu lassen, und wenn man mit dem Schlauchboot durch die Gassen des Wein-Dörfleins cruisen müsse. Hatten schließlich Geld gekostet, die Karten, das sah der Rest der Clique aber ganz genau so und ich fügte mich schließlich.

Es versteht sich von selbst, dass ich keine Ahnung hatte, was da auf mich zukam. Mir hatte T nämlich ein romantisches Silvester-Dinner auf einer Burg an der Mosel versprochen - Anfahrt mit dem Zug, das klang doch praktisch -  und später würde man in die Disco im Burgkeller gehen oder in den Weinbergen spazieren. Ich fand das alles trotz verlockender Anpreisungen nicht so wirklich toll, sah aber ein, dass man sich nicht immer nach mir richten konnte. Zumal ich auch keine Ahnung hatte, was ich dieser für mich noch neuen Clique anderes hätte vorschlagen sollen. Ich schaffte es ja nicht mal, mich mit diesen Frauen zu unterhalten, so sehr ich es auch versuchte. Vielleicht würde das besser werden, wenn sie sich betranken? Ich selbst trank fast keinen Alkohol, aber ich sorgte dafür, dass das meistens nicht weiter auffiel.

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Am 31. also traf ich mich pünktlich mit den anderen am Bahnhof. Einige schwankten bereits ein wenig verdächtig, das wollte ich aber ignorieren und mich lieber den bereits vorhandenen Befürchtungen bezüglich Wetter, Konversation, Qualität des Abendessens widmen. Ich kletterte also in leider unvernünftigen Schuhen in den Zug, stiefelte in das reservierte Abteil, bemühte mich, nicht auf der Kotze im Gang auszurutschen und wunderte mich spätestens dann ein bisschen über das Ambiente, als ich alle drei Meter einen Schluck aus einer Schnapsflasche nehmen sollte als »Wegzoll«. Sehr gerne hätte ich T angebrüllt, weil er mich hierhin verschleppt hatte und noch lieber wäre ich wieder ausgestiegen, aber der Zug fuhr da bereits an und gleichzeitig knackte es in den Lautsprechern.

Vielleicht hätte ich es noch geschafft, gegen die Musik anzuschreien, aber alle Anwesenden (mich ausgenommen) sangen auch noch sehr laut mit. »Ooh-ooh-oooh, du bist so heiß wie ein Vulkan. Tanze Samba mit mir, Samba Samba die ganze Nacht!« Erschüttert sank ich in die Polster, entfernte einen betrunkenen Jüngling unter mir und stellte fest, dass es sehr anstrengend sein kann, als einziger Mensch weit und breit nüchtern zu sein. Es lag an mir. Es musste an mir liegen. Alle anderen amüsierten sich offensichtlich ausgezeichnet, nur ich saß da wie Fräulein Rottenmeier und schaute mich fassungslos um. Sofort wenn ich wieder nach Hause kam, würde ich mir auch einen Termin für eine Lobotomie geben lassen, dann konnte ich wieder mitspielen.

So weit hatte ich mich in mein Schicksal gefunden, meine lebenslustigere Zukunft fest geplant und wollte nun einfach nur noch endlich in Kobern-Gondorf ankommen und das mitsingende Kotzomobil lebend verlassen … da kam die Polonaise an uns vorbei und ich stellte einmal mehr fest, dass Widerstand manchmal zwecklos ist. Jetzt, elf Jahre später, hätte ich vielleicht gerne ein Foto von dieser vor sich hin sabbernden und singenden Bande und wie ich mit durchgedrücktem Rücken, angewidertem Gesichtsausdruck und tief in fremdem Fleisch vergrabenen Fingernägeln zwischen der blondierten E und dem kotzenden D hing und von ganz vorne bis nach ganz hinten durch den Sambazug der deutschen Bahn geschoben wurde. Aber damals war mir nicht nach Lachen. Gar nicht.

Auf den als Zuflucht kurz in Erwägung gezogenen Zugtoiletten dauerkopulierten Ballermänner mit Ballerfrauen, T war längst in der Polonaise verschollen, mein Platz vollgekotzt und ich nutzte den mir angebotenen ‘Klaren’ in regelmäßigen Abständen entweder zum Desinfizieren meiner Hände oder als Einlauferleichterung für die verdammten Pumps. Das fanden dann alle noch nicht Bewusstlosen im Abteil sehr lustig und ich hatte danach ziemlich viel Mühe, einen stiernackig vor sich hin glotzenden Anzugheini davon abzubringen, aus meinem Schuh zu trinken. Den ich noch anhatte.

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Dann kamen wir endlich in Kobern-Gondorf an und zu meinem Entsetzen leerte sich der gesamte Zug dort: All diese grölenden Gestalten waren hergekommen, mit uns Silvester zu feiern. Na prima. Das versprochene Dinner in einer Burg an der Mosel mit Kellerdisco entpuppte sich ohne weitere Verzögerung als ballermannähnliche Abfütterungsparty in einer Kneipe namens ‘Burg irgendwas’, das Dinner als ein an der Wand lang geklatschtes preiswertes Buffet und die ganze Veranstaltung an sich als die besagte Disco danach. Proll-Musikbesäufnis rundherum. Dazu kam noch, dass das Dorf drei Tage vorher noch unter Wasser gestanden hatte. Sämtliche Räumlichkeiten rochen modrig, aus den Tischecken tropfte Wasser und alle Polsterbänke waren komplett durchfeuchtet – ich setzte mich auf eine Speisekarte und wartete dann einfach nur noch ab, bis diese Nacht endlich vorbei und ich wieder zuhause war.

Wobei ich es immer noch meiner fehlenden Lobotomie zuschreibe, dass ich mich nicht amüsierte. Es muss an mir gelegen haben, doch, wirklich. T hatte nämlich eine großartige Zeit, die anderen offensichtlich auch. An meiner linken Schulter hing stundenlang der besoffene D herum, der mir des Langen und Ausführlichen erzählte, dass er seine zuckersüße wunderhübsche E zwar wie irre liebe, aber auf jeden Fall und schon zwecks gemeinsamer Absicherung zuerst mal einige Jahre mit ihr verheiratet sein wolle, bevor er eine Familie gründete. Fand ich ganz vernünftig, warum soll ein 23-jähriger nicht auch mal vernünftig sein?

Auf dem Klo traf ich dann besagte E, die mir und ihrer Schwester mit strahlenden Augen beim Nachfrisieren verkündete, dass sie in 1994 endlich ein Baby kriegen werde. E muss mit großer weiblicher Intuition gesegnet gewesen sein, denn allen vernünftigen Vorhaben von D zum Trotz erfüllte sich 11 Monate später ihre Vorhersage. An E fand ich besonders bemerkenswert, dass sie auf Hochzeiten als Gast bevorzugt in möglichst ‘auffallenden’ Outfits auftauchte, weil es ihr viel persönliche Befriedigung brachte, wenn man sie mehr beachtete als die Braut. Davon erzählte sie zumindest oft.

Ich sehe E immer noch vor mir, wie sie an jenem Silvesterabend ihrem Freund strahlend zulächelte und zustimmend immer wieder nickte, als er alle Gründe aufzählte, warum sie erst in einigen Jahren heiraten würden »und den ganzen Rest, Familie gründen und so«. Sie waren schon ein schönes Paar, die zwei. Also optisch.

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Um Mitternacht verlobten sie sich ‘überraschend’, wozu ich die Theorie pflege, dass E dem neuen Jahr die Show stehlen wollte. T stolperte auf mich zu und ich wusste schon in jenem Moment, dass ich ihn verlassen würde. Sollte er mir einen Parallelantrag machen, konnte man diesen Vorgang auch noch gewaltig abkürzen.

Allerdings fand ich die Vorstellung einer gemeinsamen Rückfahrt im vollgereierten Sambazug bereits bedrückend genug und musste nicht unbedingt genau jetzt noch eins draufsetzen. Mein Hintern war nass und kalt, meine Füße rochen nach Wodka, in der ganzen Halle lehnten Menschen an den Wänden, um sich komfortabel zu übergeben. Es war etwa 0:02 Uhr, und der Sambazug fuhr erst am Morgen zurück.

Zum ersten Mal verstand ich mit jeder Faser, wieso sich Menschen an Silvester ein frisches Jahr ohne Altlasten wünschen.

2 Kommentare Der schlimmste Silvester-Abend oder: Als ich mal mit dem Samba-Zug nach Kobern-Gondorf fuhr

  1. Avatar Gwen 31.12.2004 um 14:02 Uhr

    Einmal im Jahr muss man sich als gelegendliche Besucherin deiner Homepage zu Wort melden:-))Ich wünsche dir und deinen Lesern einen guten Rutsch. Grüße, Gwen

  2. Avatar Bärbel & Gerd 02.01.2006 um 13:37 Uhr

    Ein wunderschönes neues Jahr 2006!

    Wir haben heute zufällig die wunderbaren Schilderungen der Samba-Fahrt gelesen…. begeistert… oder auch nicht!

    Gerds Eltern haben sich vor 50 Jahren in einem solchen Samba-Zug kennengelernt. Nun steht die Frage an, ob man diese Fahrt wiederholen sollte… mit der ganzen Sippe - natürlich….

    Bei den gerade gelesenen Schilderungen kommen uns doch berechtigte Zweifel, ob wir das auch erleben wollen - müssen - sollten….

    Gerne berichten wir, wenn es dazu gekommen sein sollte (Mitte Juli 06)

    Die besten Grüße aus Dortmund

    Bärbel und Gerd

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