Das Meer ist einfach wunderbar, wenn es ...

Das Meer ist einfach wunderbar, wenn es regnet. Der kalte Wind hat sie alle weggefegt: Die zur Inselumwanderung entschlossenen Paare mittleren Alters, die traurigen Einzelmädchen mit Ethno- oder Tekkno-Rücksäcken, die zu allem bereiten Läufer. Meine Metermähne ist traditionell niemals wetterempfindlich - weil ich es nicht bin - und so lasse ich es gerne zu, dass mein Kopf feucht umweht wird, denn die Luft ist herrlich und durchdringt mich völlig.

Und dann ist da noch das Wasser. Ich habe für mich entschieden, dass ich mich nicht mehr darum kümmern werde, ob ich hinfalle. Ich bin oft gefallen, und immer wieder aufgestanden. Warum soll es mich also abhalten? Mehr als blaue Flecke (oder leichte Knochenbrüche *g*) würde ich mir schon nicht holen. OK, das war nicht so einfach, wie es sich anhört. Ich könnte euch den Appetit mit einem dokumentarischen Foto meiner Gehwerkzeuge verderben *g* Aber als ich dann da draussen war und rechts, links und vorne nur Meer, da hatte es sich gelohnt. Auch wenn die eine Welle mir plötzlich um die Knöchel spülte 😉 irgendwer hat ja immer ein größeres Maul als die anderen.

Als ich nass, kalt und glücklich den Weg vom Strand zurückstolperte, stand dort Käptn Iglo und kratzte sich den Bart. Ich bin mir ziemlich sicher, dass er das war - bestimmt hat jemand, der in der Karibik mit Hunderten von Kindern Spots für Fischstäbchen dreht, im Winter das Bedürfnis nach der Nordsee? Ich hätte ihn gerne gefragt, ob dieser nervenkillende KÄPPPTN-IIIIGLUUUU! Song ihm nicht auch unglaublich auf den Geist gegangen ist, aber er sah nicht kommunikativ aus.

* * *

Heute morgen hat es dann wieder geschneit. Wie bei meiner Ankunft wurde die Insel von einem Schneeschleier bestäubt - da wusste ich, dass ich abreisen würde. Eigentlich sollte Montag der Reisetag sein. Aber als meine Frachtkiste bereits um kurz nach 8 Uhr morgens abgeholt wurde, konnte mich nichts mehr halten. Die nächste Fähre mit einem durchgehenden Anschlusszug fuhr um 11 Uhr 15 und auf genau der sitze ich jetzt und tippe zur Abwechslung mal wieder direkt auf der Armada. Irre, wie groß der Monitor von diesem Notebook doch eigentlich ist, wenn man relativ nah davor sitzt! Diesmal musste ich auch nicht wie eine Geisteskranke das Schiff stürmen, um den Tisch ganz hinten ganz links zu ergattern, denn mit dem neuen Langzeitakku bin ich nicht mehr darauf angewiesen, die Kindersicherung einer Steckdose zu knacken.

Eigentlich ist es viel zeitgemässer, einen guten Laptop als Hauptrechner zu nehmen und die alten, großen Kisten als Ersatzgerät, als Server, als Standort des CD-Brenners und Scanners. Ist die neue Welt nicht wunderbar? Ich weiß zwar noch ganz gut, wie wir es ohne Netz und doppelten Hardware-Boden geschafft haben, aber ich mag es lieber, wie es jetzt ist. Auch wenn mein Laptop ohne Vorwarnung “Hurra wir fliegen” aus dem Captain Future Soundtrack plärrt, wenn ich ihn aus dem Standby-Modus erwecke *g* denn auch so kann man ins Gespräch kommen ...

13.22 Uhr, im Zug
OK. Eins steht fest: Wenn ich für jedes unvernünftige Mal, dass ich mit dem Handy online gehe, mit einem Auftrag belohnt werde, ist das erzieherisch bedenklich 😊 Andererseits kann ich beim besten Willen nicht behaupten, dass ich etwas dagegen habe.

In dreieinhalb Stunden komme ich in Düsseldorf an. Olli weiß noch nicht, dass ich heute komme, ich werde ihn überraschen. Ein Plan, der meiner Nachbarin Marlies ein romantisches Begeisterungsquieken entlockte 😊 also weiß ich auch bereits, wo ich die letzte halbe Stunde warten werde. Ich habe Sehnsucht. Der Zug könnte ruhig schneller fahren, die Zeit sich beeilen, die Funkuhr schneller wandern.

Herrlich: Ein frischer Milchkaffee. Ich bin so oft mit diesem Zug gefahren, aber noch niemals vorher ist ein Servierwagen gekommen. Der Herr hinter mir hat mir gerade erzählt, wie er, sein Sohn und seine Enkel das Internet nutzen. Der 19jährige Vater mit dem 2jährigen Kind (“unsere Mutti macht gerade ihr Abi und das ist mit Kind zu stressig, deswegen fahren wir zu Omi”) ist zum dritten Mal von einem reservierten Platz vertrieben worden, was ihn nicht weiter kümmert, er lässt sich halt auf dem nächsten (reservierten) nieder, zwischen all den freien, nicht belegten und nicht reservierten Plätzen.

Lena-Marie (und ich WEISS, dass Ihr denkt, ich denke mir diese Namen aus! Aber so ist es nicht) kaut an der Antenne von ihrem Dipsy-Rucksack und ich freue mich andächtig über den Akku, der immer noch keinen Mucks von sich gibt. Was ist es, das Eltern so unendlich geduldig macht? Banaaaane. Dieses Kind übt seit anderthalb Stunden sein neues Wort. Noch 34mal, und auch die Dame auf dem Sitz schräg gegenüber wird endlich wissen, wie die gekrümmten gelben Dinger heissen ....

Der ältere Herr hinter mir ist hoch interessiert an dem Laptop, dem Internet und überhaupt. Mir tut das Herz weh, weil er mir erzählt hat, sein Sohn könne die eigene Firma ohne seine Hilfe gar nicht am Laufen halten. Es ist ziemlich klar, dass das nicht stimmen kann: Er kann kaum was sehen, geht auf die 80 zu (wer weiß, von welcher Seite?) und ist ein bisschen tüdelig, kann nicht alle Informationen korrekt einordnen, die er über Computer hat. OK, wer kann das schon. Aber ich wünsche mir sehr, dass es mir in meinem Leben erspart werden bleibt, mir später einzureden, ich würde mich aktiv an Dingen beteiligen, bei denen dies nicht wahr ist. In meinem Kopf ist eine Welt voller Träume und Gedanken und bisher bin ich immer davon ausgegangen, dass man mir das nicht nehmen kann. Durch den Schlaganfall von Ilona ist mir wieder bewusst geworden, dass ich die Ausfallerscheinungen und Symptome kenne, die sie beschreibt. Die Koordinationsschwierigkeiten, Sehstörungen und Schwindelanfälle habe ich auch erlebt. Ich glaube aber nicht, dass ich einen unbemerkten Schlaganfall hatte. Aber das lässt sich ja ohnehin mit der anstehenden Computertomographie abklären.

15.00 Uhr
Eine viereckige Dame stürmte das Abteil und schnauzte “Ist hier denn alles besetzt???” Wow. Was für eine überflüssige Power, vor allem, wo ganz klar ersichtlich ist, dass mindestens 8 Plätze frei sind *g* Lena-Marie und ihr neu gewonnener Kampfgefährte etwa gleichen Alters haben die Macht gemeinsamen Gesangs entdeckt und brüllen den Wagon in Grund und Boden. Die Elternteile lächeln milde und etwas dämlich - aufgeweicht von Monaten des Babysittings finden sie es nicht so schlimm, wenn ein ohrenbetäubender Geräuschpegel herrscht, das ist offensichtlich. Die Landschaft zieht vorbei, Lena-Marie brüllt unaufhörlich, der Knabe mir gegenüber (frisch zugestiegen) hat sich in Tolkiens Welten verloren, der Herr der Ringe hält ihn gefangen und ich habe eben gesehen, wie er ganz enttäuscht den Rest des Buches aufblätterte: Nur noch so wenige Seiten?!

Lesen würde ich auch, wenn ich kein Notebook hätte. Aber so? Ich habe die Kraft der zwei Herzen, ein Doppel-Akku ist fast ein bisschen viel. Lena-Marie ist ruhig, sie hängt kopfüber im Papierkorb. Sogar ihr Sunnyboy-Daddy sieht langsam etwas angestresst aus. Macht er aber fein, das alles (grins). Kunststück, er ist auch mit ziemlichem Rumgestümpere der Held aller mitreisenden Damen und Mütter. Eine Frau würde sich komplett unfähig fühlen dürfen, er wird dafür bewundert, dass er ÜBERHAUPT mit dem Kind rumschleppt.

15.45 Uhr
Der Zug füllt sich, der Akku schwindet. Eine Frau kommt extra in unser Abteil, um ihr Kind aus dem Fenster zu halten: In ihrem Abteil stört der Luftzug, bei uns wird gar nicht erst gefragt. Dafür bemüht sich ein dominanter älterer Herr mit Hilfe des Schaffners darum, in unserem Abteil die Heizung auszustellen - auch er fragt keinen der inzwischen rund 15 Mitreisenden. Der war sicherlich Grundschullehrer, bevor er in die obligatorische Frührente ging 😉 irgendwann lasse ich mir noch ein T-Shirt drucken mit dem Spruch “Du lebst von meinen Steuern”.

Ein neues Kind ist aufgetaucht, und es bemüht sich sehr nett darum, Lena-M einen neuen Satz beizubringen. Sowas geht am besten, wenn man die Worte pausenlos wiederholt: WIELANGEFÄHRTNDERZUGNOOOOOCH? Fünf erwachsene Menschen sehen sich gegenseitig bedeutungsvoll an, als die Mutter von diesem Kind es ein Abteil weiter (zu uns) schickt mit den Worten “nun mach doch hier nicht so einen Krach, geh mal dahinten hin.” Lena-M ist gleich mitgekommen und saugt sich konsequent am Fenstergriff fest. Soweit ich das sehen kann, hat sie noch keine Zähne, die sie sich bei einem unerwarteten Ruck aushauen kann - also ist das nicht mein Problem, richtig?

Es ist eiskalt hier drin geworden, seit der alte Knacker die Heizung ausstellen liess. Er sieht zufrieden aus, so wie solche dann immer aussehen: Wie eine senile, aufdringliche alte Eule. Die Kinder haben ihre Schuhe ausgezogen und möchten sie aus dem Fenster werfen. Wenn ich aufstehe und das Fenster umklappe, schaffen sie es vielleicht? 😉 Nu ja, der Papierkorb tut’s auch.

16.35 Uhr, fast schon in Düsseldorf
Zwei Minuten, und ich bin zuhause.

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