Blogging down Memory Lane II (1990)

Die Kanadierin hieß Joany, und die andere Küchenhilfe Betty. Die zierliche dunkelhäutige Betty kam von den Philippinen und brach in haltloses Schluchzen aus, als ich spontan fragte, ob sie über eine Partnervermittlung zu ihrem 40 Jahre älteren Mann gekommen war. Ich entschuldigte mich fortan immer wieder sehr demütig für diese völlig unpassende Frage und hatte bei jedem Gang durchs Haus das Gefühl, die großen braunen Augen würden mir vorwurfsvolle Löcher in den Rücken bohren: »It was LOVE, Carola! True, real love. We and I saw him and boom, love and now happy, all LOVE we was!«

Betty war wunderhübsch. Einige Jahre später erfuhr ich zufällig, dass sie froh war, als der Mann endlich verstarb, der sie als junges Mädchen auf den Philippinen eingekauft hatte … und sie ohne Schande zu dem heimlichen Freund ziehen konnte, den sie schon lange hatte. Love, zweifellos.

Aber von Betty will ich gar nicht erzählen und kann es auch nicht wirklich von dem großen Haus, das ich mit geschlossenen Augen immer noch durch die alten Eichern da oben über einer fernen Straße schimmern sehen kann - kann es nicht, weil dort noch alles genau so ist. Ein Nazi-Internat sei es angeblich mal gewesen, eine Eliteschule. Meine Fantasie spielte mir bravbezopfte blonde Brutmaschinen in den Schlafsälen vor, obwohl es sich vermutlich eher um die strammen Hinterbacken von Offiziersanwärtern gehandelt haben wird, da oben auf dem Hügel im Wald über der Stadt, in der ein halber Fluss zu viel fließt. Dort ist immer noch dieses Hotel, das von einer merkwürdigen religiösen Abspaltung geleitet wird und vermutlich hoch fragwürdige medizinische Heilmethoden verspricht gegen Krebs und vieles andere. In jenem Jahr lernte ich fünfzehn Menschen kennen, die einen Hirntumor hatten und einigen wuchs er aus dem Auge heraus oder drückte ein Ohr zur Seite. Ich erlebte mit, wie ein einzelner Blutkrebs verschwand und mehrere Menschen starben, teilte mir einen dummen schönen Bodybuilder mit einer blondgelockten Freundin, machte mit einigen anderen Musik auf der Straße in diesem oder jenem Ort am Fluß und tanzte viele Nächte durch, wenn auch nicht in dem großen Haus im Wald, sondern mit Joany.

Meine Seele fühlte sich an wie mittig zerrissen in jenem Sommer, sie hing nur an einem stählernen Faden, die Enden flatterten lose im Wind. Ich hatte eine kurze Ewigkeit lang nichts, aber auch wirklich gar nichts zu verlieren und passte ebenso gut in dieses Hotel wie der Mann, dessen Bauchdecke durchgefault war und der seine Gedärme in einem Plastikbeutel verwahrte. Wäre dies hier eine Kurzgeschichte, ich würde zwei Drittel der Handlungsstränge wegen Gefahr der Unglaubwürdigkeit entfallen lassen. Es ist aber keine und die Fiebernächte der letzten Woche trugen mich Nacht um Nacht zurück zu Joany und ihren großen blauen leeren Augen. Ich frage mich, wo sie jetzt ist und wie es ihr geht.

*
Zwischen den Bäumen stand noch hüfthoch der Nebel, als Joany und ich aus dem Dorf zurückkamen und uns auf die Stufen hockten für ihre letzte Zigarette. Woher genau die Kirchengesänge bei Sonnenaufgang kamen, weiß ich nicht. Sie mussten aus oder vom Hotel kommen, aber da sie so unterirdisch gut zur morbiden Umgebung und meiner bröckeligen Verfassung und all diesen kranken Menschen passten, habe ich das nie hinterfragt. Es war mein 37. Tag als Hotelgast dort und ich hatte erfahren, dass die Küchenhilfe Joany keine Krankenversicherung hatte, obwohl sie seit Tagen auf dem hinterletzten Loch röchelte. Für mich verwilderte Spießerin war das ein Abgrund, den ich nicht ausloten konnte: Lungenentzündung ohne Arzt.

Die Kanadierin war so groß wie ich, mit einer schnippischen Blondfrisur, die nicht ganz zum Pagenkopf reichte. Kaum Brüste, schmale Schultern und sehr breite Hüften zu einer ansonsten dünnen und biegsamen Figur mit einem runden Gesicht und schlechtgelaunten Entenlippen, die sie spöttisch verzog: »Carola, you know I can’t afford the hospital!« Röcheln, Husten, sie spuckte Blut. Das war’s.

*
To make a long story short: Ich marschierte noch vor dem Frühstück zum Hotelbesitzer und setzte durch, dass Joany eine Krankenversicherung bekam und versorgt wurde. Joany wurde dann mit etwas Pflege auch schnell wieder gesund. Und sofort gefeuert, denn sie war jetzt zu teuer.

Mit untrüglichem Instinkt sorgte sie dafür, dass ich mich deswegen furchtbar verantwortlich fühlte. Ich nahm sie also mit heim nach Düsseldorf, um zu schauen, ob man ihr nicht dort einen (versicherten) Job besorgen konnte. Daheim stellte sich schnell heraus, dass sie aktive und arbeitsunfähige Bulimikerin war, wenn sie für ihr Leben nicht selbst bezahlen musste. Ich bemerkte es zum ersten Mal, als ich eine Käseplatte nicht mehr fand, die ich für eine Party am nächsten Tag gekauft hatte und die sicherlich 5 Pfund französischen Käse enthielt, bevor Joany sich diesen mal eben zwischen zwei Mahlzeiten zuführte.

Sie war eine Meisterin des Nichtkönnens mit lauten Heulkrämpfen, wenn sie ihren Willen nicht kriegte. Nun bringt mal eine Kanadierin von einem Meter achtzig in eine Therapie, wenn die Dame systematisch verhindert, dass sie krankenversichert wird. Die wusste schon warum.

Um diese bizarre Story noch angemessen abzurunden, sollte ich wohl noch ergänzen, dass meine Mutter zu Besuch kam und miterlebte, wie Joany an einem halben Tag lässig und demonstrativ nebenbei das Essen für fünf Leute vernichtete – denn Joany liebte eine gute Show mit angemessener Dramatik. Mama beschloss, dass nur sie dieser armen, armen Kanadierin helfen könne und quartierte Joany für anderthalb Jahre oder so in meinem alten Zimmer ein, wo sie täglich bis drei Uhr nachmittags schlief, lange Spaziergänge unternahm und auf ihrer elektronischen Schreibmaschine tippte, denn Joany wollte natürlich eine berühmte Schriftstellerin werden.

On the road war sie ja schon, wenn auch nicht wirklich, sie lebte ja sehr bequem dort in meinem Heimatort. Vermutlich wäre sie heute noch da in meinem alten Zimmer mit dem zweiten Zimmer plus Bad, denn zufällig entpuppten sich die unzähligen von meiner Mutter angeschleppten Jobs stets in allerletzter Minute als völlig ungeeignet für die zart besaitete Joany. Irgendwann schmiss ich sie dann aber eigenhändig raus. Ich hoffe, sie kam zurück bis Quebec, damit sich mal ihre eigenen Verwandten und nicht immer meine Sippe um sie kümmern konnten. Meine Mutter hat bis heute nicht verstanden, was daran so seltsam war, so eine Fremde jahrelang im Haus rumliegen zu haben, aber die hat auch unser Kindermädchen mitsamt unehelichem Kind von einem verheirateten Regionalpolitiker bei uns ein faules Hotelleben führen lassen, bis ich irgendwann … genau. Aber das sind ganz andere Geschichten.

[Ich wollte diese Geschichte bis zum Ende hin schreiben, weil sie eigentlich noch ein Stück weiter geht, aber ein beleidigter (schon gelöschter) Comment hat mich aus dem kostbaren spontanen Schreibfluss gerissen und mich daran erinnert, dass es keinen Zweck hat. Dass man die echten Geschichten vielleicht gar nicht irgendwo hinschreiben sollte, wo jeder gedankenlos und fordernd drüberlatschen kann und jetzt werde ich dies hier auch nicht mal überarbeiten oder noch mal Korrektur lesen. Nur den Namen von Joany und den von Betty werde ich jetzt noch gegen andere tauschen.]

Joany verdanke ich kostbare Erfahrungen, lange Gespräche, unanständige Vokabeln, Einsichten in ein mir völlig fremdes Leben einer Gleichaltrigen, eine CD von Roch Voisine, die es sonst nirgends gibt und eine wunderbare Zeit mit der Musik von »Dance with a Stranger«. Sie wäre vermutlich nicht sehr erbaut, wenn sie wüsste, dass nun ich es bin, die »Writer« geworden ist, aber vielleicht stellte sie sich darunter auch wirklich nur dieses malerische künstlerische Verhungern darunter vor, für das ich definitiv nicht geschaffen wurde. Ich weiß es aber nicht, denn ich habe nur einen einzigen Text von ihr gelesen. Der allerdings war gut.

Würde mich nicht wundern, wenn sie irgendwo ein Weblog hat.

6 Kommentare Blogging down Memory Lane II (1990)

  1. Avatar Jings 20.10.2004 um 17:57 Uhr

    Ein beleidigender Kommentar beeinflußt Dich ? Hätte geschworen, daß Du da locker drüber stehst. Jedenfalls stinkt mir gewaltig, daß dieser unterhaltsamen Geschichte wegen so einem Spinner anscheinend das Ende fehlt.

  2. Avatar Melody 20.10.2004 um 18:01 Uhr

    Nicht beleidigend, beleidigt. Sie war beleidigt und es hat mich völlig aus der Konzentration gerissen. Über vielen Dingen steht man - aber trotzdem ist es immer noch tagesformabhängig, wie man damit umgeht. Und ich bin ziemlich angeschlagen gesundheitlich diese Woche.

    Das Ende fehlt, weil es doch zu privat gewesen wäre (in Bezug auf andere Menschen, da geht die Story schon weit genug, weiter als sonst bei mir) und so gesehen war es ganz gut, dass der Comment dazwischen kam.

  3. Avatar Pitty 20.10.2004 um 22:36 Uhr

    in der tat geht diese story sehr weit rein-wozu ich anmerken muss das ich ein fan deiner reinschreibweise war und bin aber dieses rein bedeutet das es dir nicht gut geht.ich wünsche mir das dir durch diese offenbarung nicht wieder irgendwelche dummköpfe ewige diskussionen zumuten wollen über das wieso und warum und hundert fragen ...sondern das es die leute als gegeben nehmen und hoffen das es dir bald wieder besser geht.ich für mein teil wünsch dir jedenfalls ne gehörige portion Power und möchte dir sagen:egal wie in zukunft rein und offen oder nich ich bleib Dir Troy 😊 greez Pitty

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