One day lost.

Der jährliche Termin beim Endokrinologen kostet fast einen ganzen Tag, den man größtenteils mit Warten verbringt. Warten, bis man gepiekst oder ultrageschallt wird, warten bis man überhaupt drankommt, warten bis man nach vorne zum Empfangsbereich gerufen wird und Zeile für Zeile noch einmal mündlich wiederholen muss, was man als Zettel bereits abgegeben hat, warten auf das Gespräch mit dem Prof.

Wenn man das vorher weiß, findet man sich damit ab. Die merkwürdig verschachtelten Abläufe, die oft stur unpraktische Vorgehensweise “denn das haben wir schon immer so gemacht” und die Gutsherrenattitüde der dienstältesten Schwester sind nicht mehr neu oder unterhaltsam und es belustigt mich auch nur bis zu einer gewissen Grenze, meinen Lebenssaft durch kleine Plastikröhrchen aus meinem Handrücken laufen zu sehen.

Ich hätte aber ganz gerne in den Wartezeiten gedöst. Denn ich bin erschöpft, übermüdet, ich bin schon extra mit der Straßenbahn gefahren, den anderen im Straßenverkehr zuliebe. Man sollte meinen, so ein einfacher Wunsch wie Dösen im halbvollen Wartezimmer könnte in Erfüllung gehen. Sobald ich die Augen schloss, machte es mir schräg gegenüber »Jaja! Aha.« und ich öffnete sie wieder, um eine mutig ondulierte Dame mit hellrosabraungrauem Wust auf dem Kopf zu mustern, die mit ihren energischen, doch eher unstrukturierten Geräuschen wohl irgendwie mich meinte.

Mir war aber nicht danach, sie auch nur fragend anzusehen, geschweige denn heraus zu finden, was sie zu grunzen hatte. Ich drehte mich einfach ein bisschen, so dass sie nicht mehr sehen konnte, ob ich die Augen schloss, und machte sie wieder zu. Schräg hinter mir grummelte und brabbelte es daraufhin und das auch gar nicht sehr leise, aber die dürre Blondine neben der Rentnerin verweigerte scheinbar jegliche Reaktion und so verstummten die Geräusche irgendwann.

Bis die ältere Dame dann aufstand, sich ganz nah vor mich hinstellte und mich zu rütteln begann, wobei sie schimpfte, ich solle mich doch bitte mal konzentrieren, was das denn nun solle!

Ich erspare euch den anschließenden langwierigen Dialog, der war nicht so richtig witzig. Also für mich nicht, der Rest im Wartezimmer hatte durchaus Freude daran. Am Ende kam heraus, dass sie irgendein leicht radioaktives Zeugs gespritzt bekommen hat und nach 30 Minuten wieder zum Empfang gehen sollte. Da ich vor ihr her ins Wartezimmer gegangen bin, hat sie messerscharf geschlussfolgert, dass sie nicht auf die Wanduhr oder ihre Armbanduhr achten müsse, sondern einfach aufstehen und mitgehen konnte, wenn ich wieder losmarschierte.

Dieser geniale und bis ins letzte Detail durchdachte Plan hatte nur einen kleinen Schönheitsfehler: Ich hatte gar kein radioaktives Zeugs gespritzt bekommen.

Wenn man mich bei dem ersten der drölfzig Vorgespräche fragt, ob ich schwanger bin, sage ich immer »Wer weiß«, obwohl ich genau weiß, dass ich es nicht bin. Das erspart mir eine Menge Röntgenstrahlen und komische Spritzen und zwar schon seit Jahrzehnten. Wie man sehen kann, lebe ich trotzdem noch und habe dieses ganze verseuchende und giftige Zeugs in und an meinem Körper mitsamt Untersuchungen sehr offensichtlich auch nicht gebraucht, also werde ich diese Frage auch weiterhin mit einem vage dahingelächelten »wer weiß« beantworten, bis ich drei Jahrzehnte über die Menopause bin und es irgendwem auffällt.

Nun lauerte diese ältere Dame also gewissenhaft darauf, dass ich aufstand – während ich darauf wartete, dass der Professor seinen Kopf durch die Tür steckte und mich hereinrief. Irgendwann schaute sie auf die Uhr, die übrigens genau über meinem Kopf hing, und es muss ihr dann wohl so vorgekommen sein, als hätte sie schon viel zu lange gewartet, und das musste ja wohl meine Schuld sein. Also rüttelte sie mich.

Völlig logische Geschichte also mal wieder. Es wäre auch nicht schlimm gewesen, wenn sie an diesem Punkt geendet hätte.

Stattdessen rhabarberte diese Flusenkopfoma mich noch geschlagene 20 Minuten am Stück mit den Details ihrer Nasen-OP dicht, die sie übrigens hatte vornehmen lassen müssen, weil immer so suppiges Zeugs in hellgelb-eitrig mit fast grünlichen Schlieren aus ihrer Stirnhöhle lief und sie mit dem Taschentuch kaum noch nachkam beim Abtrocknen. Sehr schön auch die Schilderungen, wie ein Kopfkissen (besonders an den Nähten) aussieht, wenn jemand die ganze Nacht reingesuppt hat und die Überlegungen, ob das Schleimzeugs bis in die Lungen läuft und ob man im Schlaf ersticken kann oder ob die gelbliche Farbe ein Zeichen dafür ist, dass es eigentlich Eiter ist, aber das hätten “die” einem dann doch sagen müssen.

Als ich den Punkt erreicht hatte, an dem ich bereitwillig losgehen und mir radioaktives Zeugs ggf auch durch die Augäpfel bis direkt ins Hirn spritzen lassen wollte, nur um den Raum endlich verlassen zu können, rettete mich endlich der Professor.

Alle anderen im Wartezimmer sahen zu diesem Zeitpunkt recht gut durchblutet und ziemlich erheitert aus. Beim Rausgehen zupfte ein Opa, der sicher gut 15 Jahre älter war als die Rentnerdame, mich am Ärmel und schreiflüsterte mir mit kleinen Spucketropfen am Ohr vorbei »Schrecklich, diese alten Leute! Ihr Gesicht spricht aber Bände, junge Frau!«

Jepp. Das hab ich schon mal zu hören bekommen, dass man mir im Gesicht ablesen kann, was ich denke.

Das Problem ist nur, dass ich außerdem ein zertifizierter, wenn auch komplett unfreiwilliger Psychopathenmagnet bin - und Psychopathen aller Altersgruppen und Hartnäckigkeitsgrade können nicht lesen. Zumindest offensichtlich nicht mein Gesicht.

3 Kommentare One day lost.

  1. Avatar limone 22.08.2005 um 18:32 Uhr

    das mit dem “wer weiß” ist genial… und ansonsten wünschte ich, ich könnte dir ein wenig bayerische “lass mir blos mei rua”-ausstrahlung rüberbeamen, die wirkt (wortlos) wunder. (allerdings wirkt sie auch dann, wenn man das gar nicht will…) ich bin ziemlich fassungslos, was das verhalten der alten dame (das etikett kostet mich hier überwindung) angeht.

  2. Avatar Melody 23.08.2005 um 20:43 Uhr

    Ich habe in den letzten Jahren leider so viele beschissene Menschen getroffen, dass mir nun bewusst nur noch die netten und interessanten besonders auffallen, das Gesocks mich aber nur so am Rande streift

    😊

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