Wolfsburg, Tag 3Viertel nach 8, ich bin ...

Wolfsburg, Tag 3
Viertel nach 8, ich bin einfach noch nicht wach und in wenigen Minuten werden die ersten Teilnehmer für die Schulung eintrudeln. Diese Stadt ist bizarr, und selbst das fröhliche Treiben im Stadtzentrum verwandelt sich bei genauem Hinsehen in dahinhastende Hausfrauen, die quäkende Kinder eilig an den bunten Fassaden entlang hinter sich her zerren, und sonst nichts. Es scheint ein Kino zu geben, und einen McDo’ und alle sprechen von dem VW-Dorf inmitten der Stadt als “das Werk”. Der Taxifahrer sagte, er habe eine Fahrt “zum Werk”, und die freundlich pauschaltalkende Empfangslady im Holiday Inn sagte “ach, Sie müssen ins Werk”. Vielleicht gibt es hier auch gar nichts ausser dem Hotel und dem Werk. Eventuell sind alle anderen Ansichten, die ich aus dem Taxi oder dem Fenster sehe, wirklich nur Fassaden und die Vorbeieilenden aus einer ABM-Massnahme. Ich werde es nicht erfahren, denn ich bin immer noch nicht gut zu Fuss und könnte einen kleinen Tretroller brauchen für die endlose Unterführung, die ich tapfer einmal abends, einmal morgens entlangstapfe, um zum WERK zu kommen.

Auch andere scheinen Realitätsverdrehungen zu erleiden. Am Montag meldete ich mich am Eingang des Tores (vom Werk), durch das ich den Schulungsraum erreichen sollte. “Ach, Sie gehören zu den Praktikantinnen, richtig?” Und wupps, sass ich wartend auf einer Bank neben drei blöde glotzenden Teenagern, denn vor Verblüffung hatte ich mich doch glatt hingesetzt. “Äh nein, eigentlich gebe ich Schulungen”, sagte ich strafend und wieder aufstehend. Obwohl er mir das nicht so richtig zu glauben schien, der gute Mann, bekam ich einen Ausweis und wurde wieder freigelassen. Nach mir stürmten ca 20 bis 30 Teenies den Raum, was mir das kleine Durcheinander etwas erklärlicher machte.

Und dann gestern morgen beim Frühstück. Ich sammelte mir vorsichtig die frischen Krabben zwischen dem geräucherten Aal heraus und lästerte gemütlich mit einem grossen Teddybär von Geschäftsmann über die internationalen Frühstücks-Unsitten ab. Ölige Würstchen für die Engländer, süsse Blätterteigteilchen für die Spanier, brrrr. Während ich mir Melone und Lachsbrötchen zusammenstellte und mich am Büffet entlangarbeitete.

Und dann die Frage, ob “a nice young lady like me was travelling alone and would like some company at night”. Dass ich nicht vor Schreck das Müsli ins Rührei gekippt habe, war auch alles. Nun bin ich sowieso ein altmodisches Mädel, denn ich rümpfe die Nase über jene jungen und alten Damen, die den Kick der ständigen Fremdgehbereitschaft brauchen, sich in der Regel einen neuen Partner zulegen, BEVOR sie den alten abserviert haben - und es keinem ersparen können oder wollen, dann auch noch dauernd darüber zu schwafeln. Vertraulich, versteht sich. Also, ich bin so eine monogame Langweilerin, und ich finde, das sieht man mir glücklicherweise auch an. Zumindest gebe ich mich sicherlich nicht so “aufgeschlossen” wie manches blondierte Dummdummdumm-Geschoss, das dort herumschwarwenzelte *g* Haut und Bereitschaft zeigte schon morgens um 7.00 Uhr. Dieser norwegische 2Metermensch muss besoffen oder lebensmüde gewesen sein. Ich habe ihn jedenfalls etwas mitleidig angelächelt und gesagt “sorry, but I prefer to read my book.” OK, das war lahm. Aber wirksam. Er wurde dann auch ganz verlegen und sagte nur noch “sorry sorry”, kam mir zum Fahrstuhl hinterher, um sich nochmals zu entschuldigen. Männer werde ich nie verstehen. Nie. Ich will auch gar nicht. Schon gar nicht in Wolfsburg.

Natürlich hatte er einen Ehering. Und wahrscheinlich in irgendeinem Vorort von Oslo ein Reihenhaus, inklusive Frau und zwei Bilderbuchkindern und nun läuft das Leben forever in geordneter Bahn. Da muss einem ja sogar Wolfsburg irgendwie prickelnd vorkommen 😉

Alles ist hier auch wirklich irgendwie so surreal. Man zappt sich durch das Fernsehprogramm und hat plötzlich eine quieksig schweinchenrosa Dame im schwarzen Korsett auf dem Schirm, die aufs Heftigste mit den Lippen an einem grell orangefarbenen Penis zerrt. Pay TV, natürlich, aber diese Farben??? Das restliche Programm ist normal gefärbt, wahrscheinlich wird man für Pornos gleich mitbestraft oder diejenigen, die wirklich Geld für so einen Mist ausgeben, kriegen sowieso nichts mehr mit. Obwohl es nun natürlich wieder heissen kann, dass ich das nach einem so kurzen Einblick gar nicht beurteilen kann. In Wirklichkeit ist es wahrscheinlich Kunst und hat hohen Anspruch, und wenn ich nur gewusst hätte, worum es geht .... Die sicherlich vorhandene Handlung hat sich mir nämlich nicht erschlossen 😉 wie denn auch in 2 Schrecksekunden, bevor man wegzappt. Na gut, da gibt es wohl nichts zu erschliessen. Jedenfalls nicht für mich. Das hätte mir gerade noch gefehlt, Geld für einen Pay TV Porno auszugeben, in dem alle bonbonfarben sind. Irgendwie hab ich den Verdacht, dass es diese TV Channel nicht nur in Wolfsburg gibt. Aber hier kann ich das irgendwie noch nachvollziehen.

In einem Raum mit fünf Computern, und nirgendwo ein Zugang in das WWW, das Wahre Weite Web. Und kein richtig freier Tisch, ich stapele hier die Schlepptops schon aufeinander bzw balanciere gemütlich damit herum. Wieder bin ich froh, dass ich mir damals einen praktischen Laptop gekauft habe, der schwer genug auf dem Schoss aufliegt, dass man auch wirklich damit arbeiten kann, und nicht so ein schmales leichtes Etui-Dings. Die Erwägung war halb praktisch, halb finanziell, klar 😉 aber jetzt bin ich froh, und so schwer ist er ja ohnehin auch wieder nicht. Es scheint so normal, abends im Hotelzimmer online zu gehen, Kabel und Mousepads in der Tasche mitzuschleppen, mit Disketten zu hantieren und abends mal schnell zu chatten. Schöne neue Welt, ich liebe es…. und bin inzwischen in der Mittagspause angelangt. Nun habe ich eine ganze Stunde für mich, um aus dem Schulungraum im obersten Stock zu schauen und New Beetles zu zählen. Mich zum Mittagessen zu schleppen, kann ich mir sparen - deswegen habe ich ja so grossen Wert auf ein gutes Frühstück gelegt.

Zwischen Tisch 3 und 2 liegt ein langer roter Fingernagel auf dem Boden. Er ist ziemlich grauslig, ich werde bald mal dagegentreten und ihn ins Nirwana befördern. Hatte ich eigentlich schon mal lackierte Nägel? Ja, ich denke schon, so zwei- oder dreimal sicher, vor zehn oder fünfzehn Jahren. Es kann mir nicht gefallen haben 😉 und wenn ich mir diese rote Kralle so ansehe, schaudert es mich. Ob der echt ist? *kick* Die stark geschminkten und lackierten Damen voller Schmuck in “rassigen” Klamotten 😉 haben sich als die herausgepuppt, die den ganzen Tag lang immer nur eine einzige Aktion am PC wiederholen, was mich wirklich unglücklich macht. Zwar muss ich irgendwie gewusst haben, dass es solche Jobs gibt, aber richtig gut damit umgehen kann ich nicht. Die sind auch irgendwie verdammt überlebenstüchtig in ihrer Art 😉 denn sobald sie ... äh etwas nicht verstehen, heisst es direkt anklagend “das waren zuviele technische Wörter!” (Windows und so) und schon sind die anderen schuld. So. Und da steht man dann. Weia, mein Leben könnte sooo einfach sein, wenn ich nur endlich solche Verhaltensweisen lernen würde *g* 😉

Naja, aber dann könnte ich auch den Kopf in eine Papptüte stecken und erst mal da bleiben. Und es gibt eine Menge guter Gründe, warum ich daran keinen Spass hätte 😉

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