Vienna

Es ist 10 Uhr und Sissi erzählt von den Türkenbelagerungen und vom Belvedere Sommerschloss. Wie immer frage ich mich, warum ich mir diese Touristensachen zustoßen lasse, wieso verbringe ich den Vormittag in einem Bus voller den Laptop misstrauisch beäugender Rentner, mit einer ihr Programm unerbittlich routiniert abspulenden Reiseführerin namens Sissi? Weil ich nicht gut genug laufen kann, um einfach loszuziehen, und dann hatten sie so bunte Zettel und ich immer ein schlechtes Gewissen, weil ich mit gutem Kaffee und Leutegucken schon zufrieden bin in den Metropolen dieser Welt, deren Atmosphäre mir auftanken hilft. Nicht deren Sehenswürdigkeiten. Kann man diese Art des Reisens anderen zumuten? Zu zweit kann man sich nur schlecht treiben lassen, wenn dann Gefahr besteht, dass einer nichts sieht, weil eine nicht gut laufen kann.

Also eine Bustour. Heute ist die Ringstraße gesperrt, autofreier Tag europaweit irgendwas. Man hat sich ein Alternativprogramm ausgedacht. Zu Fuß zum Belvedere. Interessiert mich nicht, ich brauche mein Bein heute noch und muss meine Energie einteilen. Und so kommt es dann, dass ich gerade einmal alleine um die Stadt gefahren wurde von einem kleinen Italiener in einem wahrhaft großen Bus, schön laut mit Frankie goes to Hollywood. Nicht schlecht. Einfach mal sitzen bleiben, wenn alle anderen aussteigen. Kann ich nur empfehlen. Ganz vorne im Bus auf dem Tourguide-Platz sitzt es sich auch gleich ganz anders. Als die anderen wiederkamen, saß ich brav wieder in der Bank.

Sissi zählt schon wieder alle durch. Irgendwer fehlt. Scheinbar fahren wir trotzdem los. Find ich gut. Wer es schafft, bei einem 10-minütigen Spaziergang verloren zu gehen, obwohl extra alle mit gelben Punkten beklebt wurden ....
PLUS-Supermärkte heißen hier Zielpunkte. Die Kelten sind schuld an Wien, aber Sissi sagt, man sieht von denen keine Überreste mehr. Sie ist schon bei der Mama von Marie Antoinette angekommen, die Sissi, als ich noch bei den Römern bin und ich habe die Befürchtung, dass ich in Schönbrunn aussteigen soll, aber ich war doch schon mal da und ich will die 1440 Räume nicht sehen und auch keine 15 davon. Ich will Kaffee und kein altes Schloss und ich würde gerne wissen, warum man in Wien in 36 Stunden so viel herrische dunkelhaarige mittelältere Frauen mit dem Oberschwestersyndrom trifft wie in Düsseldorf in einem Jahr. Heute morgen stand eine winzige Brasilianerin an der Kaffeekanne im Hotel und so ein Schwiegermutterimitat drückte ihr die Hand auf den Schlüsselbeinbereich und sie nach hinten weg wie einen lästigen Hund, der am Tisch bettelt – einfach weil die kleine Dame den deutschsprachigen Anranzer („Gähäns jetzt mal weg da, Kaffee wird nachgefüllt!“) nicht verstand und fuchtelnde Kommunikation ihr wohl als sinnlos erschien. Ich war fassungslos, denke aber inzwischen, das könnte hier jederzeit jedem passieren. Der nicht zufällig 182 cm groß ist und ein deutlich hörbares Knurren von sich geben kann.

11 Uhr 30

Sitze kaffeetrinkend vor dem Schloss Schönbrunn, während die meisten der anderen drin rumlatschen. Es gibt bestimmt schlechtere Orte in Europa, um sich ein bisschen vom Wind durchwuscheln zu lassen und ein Stündchen mit Leutegucken zu verbringen. Die Spatzen klauen Krümel vom Tisch oder denken das zumindest, ich hab sie ja extra hingelegt. Schön ist das, so ohne Termine. Meine Begleitung ist losmarschiert, „gelbe Dinge“ fotografieren, und die x-te ruppige Dame des Tages wischt demonstrativ feucht um mich herum. Habe keinen Zweifel daran, dass ich zum Aufstehen aufgefordert würde, hätte ich kein Fläschchen Wasser nachgekauft. Neben mir raucht eine spanische Reisegruppe vor sich hin, nur Frauen. Auch solche spanischsprachigen Gruppen haben wir heute schon mehrfach getroffen. Sie sind sehr gepflegt, ohne aufgedonnert zu sein, die Kolleginnen aus Deutschenlanden sehen leider nicht vorteilhaft gegen diese älteren Ladies aus. Wir hatten sogar kurz überlegt, in den englischen Bus zu steigen, um einer hartgesichtigen, lautstark rumkumpelnden Jogginganzuggruppe zu entgehen. Sie trugen nicht wirklich Trainingsanzüge, wirkten aber trotzdem so. Die Spatzen sind satt und nun rückt eine Taube bedrohlich näher. Bah. Ich habe einem Spatzen ein besonders großes Stück gegeben, aber meine Hoffnung, ihm beim Zerpicken zuzusehen, wurde zerschlagen – er konnte es wegtragen.

12:25

Der Mann behauptet hartnäckig, den Text des Radetzky-Marschs zu kennen und grinst, weil er weiß, dass ich weiß, welchen Werbespot er meint. Sissi verkauft im Bus eine DVD mit Produkteigenschaften, die auf vieles in der Welt zutreffen: „Wenn es nicht passt, einfach umdrehen – die andere Seite funktioniert nur für Amerika“. Eine der älteren Damen informiert sich genauestens über die Inhalte der DVD. Wir kaufen ein Touristenbilderbuch. Warum, weiß ich nicht. Mal nachschauen, welche Bilder in meinem Kopf sein könnten, wenn ich ihn nicht mit anderen (und Kaffee) voll stopfen würde.

Wir fahren am Naschmarkt vorbei (ich denke an die Meisterköchin, die immer vom Einkaufen dort schreibt) und die Rentner nebenan nehmen eine CD mit Walzermusik von der Sissi, woraufhin der Mann verständnislose Zuckungen absondert – ich versteh es aber auch nicht. Es ist gemütlich im Bus und die Aussicht ist schön. Ab und zu schaue ich sogar aus dem Busfenster, die meiste Zeit aber beobachte ich meinen Lieblingstouristen und freue mich darüber, dass immer noch ein warmes Kribbeln aufsteigt und um die Lungenspitzen flutet. Ich bin reich, egal wo ich bin. Es ist nicht wichtig, dass ich nicht weit laufen kann und über Kopfsteinpflaster vor Schlössern schon gar nicht. Heute ist es sonnig und windig. Über das Handy kam vor ein paar Minuten die Nachricht über einen Hirntumor eines Bekannten an mein Ohr und sickert langsam ein, ganz langsam.

Sissi befiehlt uns gerade, was wir uns noch alles anzusehen haben, weil diese Bustour natürlich nicht alles abdeckte. Der Tonfall ist herrisch, die Stimmlage angenehm. Vermutlich könnte sie ein Vermögen machen als Domina. Oder auch nicht, heute hörten sich schon viele Damen so bestimmend an in dieser Stadt. Direkt neben mir finden Dialoge statt, die man eigentlich nur mitschreiben müsste. „Da steht Stadtpark auf dem Schild, ob man da auch zum Stadtpark kommt?“ – „Der Ring ist bis 14 Uhr gesperrt, wir gucken aber trotzdem mal eben (mit diesem riesigen Bus voller Leute) ob man wieder durchkann (und werden dann erstaunlicherweise von der Polizei fortgewinkt)“ – „Als Beethoven wiederkam, war Mozart schon tot.“ – „Was schreibt die denn da mit dem kleinen Computer“ – „Was wird sie schon schreiben, das was die Frau da erzählt natürlich“. Sissi befiehlt uns gerade, einen Heurigen mindestens aufzusuchen, das sei Pflicht und das dürfe man nicht auslassen. Ein anderes wichtiges Thema sind die Mehlspeisen, sagt Sissi. Sachertorte dürfen wir nur mit Schlagobers essen, angeblich haben die keine Kalorien, wenn man sie als Tourist isst.

Wien rauscht links und rechts an mir vorbei, Jugendstil und Karlskirche und die Pest von1713 und alles was ich will, sind weiche weiße Kissen und ein Bett. Der Mann hat ein Internetcafé geknipst, als alle anderen auf Fassaden guckten. Die Tour endet hier. 13 Uhr.

9 Kommentare Vienna

  1. Avatar Pitty 22.09.2004 um 22:12 Uhr

    Huhu Melody

    dazu fällt mir nun eigentlich nurn song von der gruppe Ultravox ein den ich erst gestern auf meiner tour hörte…kraftvoll und doch melangcholisch-hätte sicher auch good zu der fahrt rund um vienna gepasst-ausser der italiener war ein temperamentvoller fahrer denn dann passte wohl for heaven`s sake von frankie doch besser *gg* wünsch dir alles gute du exilnordländerin griassle ussem schwobaländle vom Pitty 😊

  2. Avatar limone 22.09.2004 um 23:10 Uhr

    man kan wien auch kennenlernen, indem man alle salamander filialen der innenstadt nach einem bestimmten paar weißer reduzierter pollini pumps in der eigenen größe absucht und in der letzten schließlich fündig wird - eigentlich eine halbe nummer kleiner als man sie sonst trägt, aber diese schuhe passen.

    aber man wird sie nie tragen. zuhause ist nicht wien, und als sie acht jahre später immer noch kein straßenpflaster kennen gelernt haben und man ahnt, wohl auch keine hochzeitsschuhe mehr zu brauchen in diesem leben, werden sie anlässlich eines größeren umzuges via ebay verkauft. an einen herrn in berlin, der augenscheinlich schuhe sammelt… oder weiterverkauft, wer weiß das schon.

  3. Avatar moncay 23.09.2004 um 14:49 Uhr

    hätte ich das gewußt, wäre ich an der ringstraße gestanden und mit der sauseschrittfahne gewunken: auch eine einladung zu einem kleinen braunen ganz weit weg von sissy wäre drin gewesen - oder gibt´s dich noch ein wenig in wien und ich kann die ketten des städtetourismus sprengen helfen?

    ein überraschter sauseschritt aus wien

  4. Avatar Petra 23.09.2004 um 17:13 Uhr

    Wien ist meine persönliche europäische Lieblingsstadt; ich war bisher 3x dort und hab nur nette Menschen kennen gelernt. Wir haben es sogar gewagt dort Auto zu fahren (ich sag nur: Einbahnstraßen…), und die Füße hab ich mir mehr als einmal plattgelatscht.

    Einfach nur schön, es war ein bisschen Wehmut dabei, als ich vom Nachmarkt und allem las, schließlich war ich grad im Juni da, ohne Mann, ohne Kinder, dafür bei Karina, das war wie drei Wochen Urlaub *schwärm*

  5. Avatar Melody 23.09.2004 um 19:26 Uhr

    Petra: Ja, Wien ist sehr schön ... deswegen habe ich auch sofort gebucht, als ich das gute Angebot fand. Besser für 48 Stunden als gar nicht!

    Um sich bei Karina und Markus oder anderen Bekannten auch noch zu melden, hat die Zeit leider gar nicht gereicht, genau genommen waren wir nur einen ganzen Tag da und ich bin gar nicht gut zu Fuß momentan. Aber das war nicht der letzte Wien-Besuch 😊

  6. Avatar Petra 24.09.2004 um 10:35 Uhr

    Kann ich mir auch nicht vorstellen, dass das der letzte Besuch gewesen sein sollte 😉 Diese Stadt hat so ein irres Flair - also ich kann mich dieser Faszination nicht entziehen. Nun muss ich aber auch endlich wieder mal nach Venedig, da war ich nur einen Tag lang und das Anno 1979 😉

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