Tricks of the mind oder warum fällt mir das jetzt ein

Heute fielen mir auf einmal die Mütter meiner Schulkameradinnen ein, die damals in dem Alter waren, in dem ich jetzt bin. Meine eigene Mutter hat und hatte ihren Weg, unterrichtet auch nach ihrer Pensionierung noch ein bisschen in der Musikschule, die sie mit gegründet hat als junges Mädchen. Aber die Mütter der anderen hatten in meiner Erinnerung eigentlich nur Jobs, wenn sie gerade geschieden wurden oder bald werden würden und das waren dann so Dinge, die ich eher unter experimentell abhaken würde: 38jährige, die eine Lehrstelle in der Buchhandlung finden oder einmal vierteljährlich einen Yoga-Kurs gaben und ähnliche wunderbare Dinge, von denen man Teenager eher nicht miternähren kann.

Vermutlich, so denke ich heute, haben diese Frauen sehr darauf geachtet, ihre Unterhaltsansprüche nicht zu riskieren, sonst hätten sie wirklich arbeiten müssen. Aber damals kam es mir bizarr vor. Ist es wohl auch.

Dann war da noch die Mutter einer Bettina. Die Mitschülerin selbst würde ich nicht erkennen, wenn sie sich auf und ab hopsend vor mir befinden und mit einem Namensschild beschriftet sein würde - was mir schon zwei Jahre nach dem Abi genau so mit ihrer besten Freundin passierte, die ich im hellen Bereich einer Disco nicht mehr identifizieren konnte, obwohl ich acht Jahre lang das Klassenzimmer mit ihr ‘geteilt’ hatte.

Nicht absichtlich. Ich habe diese Gabe, belanglose Menschen einfach komplett zu filtern, ein zeitsparender Segen. Es sei denn, die Gefilterten stehen vor einem und wissen nicht, warum man sie nicht erkennt und denken, man will bloß gemein zu ihnen sein. Dabei ist das gar nicht so. Ich defragmentiere und was nicht von Bedeutung ist, fällt weg. So einfach ist das.

Die Mutter dieser Britta trug kleine türkische Seidenpantoletten mit einem besonders hohen Absatz, meistens gestickt in Pink oder Türkis passend zum Nicki-Hausanzug. Eine winzige Frau mit winzigen Füssen in einem winzigen Haus. Sie hatte in dem eckigen kleinen Reihenhausflureingang eines dieser offenen Regale, mit denen jede noch so großzügige Diele wie eine Rumpelkammer aussehen würde, in dem standen ungefähr 200 Paar sehr hochhackige Schuhe, in denen sie in der Wohnküche und auf der kleinen Terrasse umhertippelte.

Einmal klingelte ich eine Stunde zu früh (ich mag keine Uhren tragen, deswegen bin ich fast immer etwas zu früh, damals oft viel zu früh) und Bettinas Mutter öffnete, wobei sie eine dieser offenen Holztreppen herunterkommen musste. Auf jeder Stufe machte sie ein Geräusch, das ich sehr bedenklich fand und ich fragte sie nach dem Öffnen der Tür sofort besorgt, ob es ihr nicht gut gehen würde. Sie erzählte mir dann, dass sie ihr Leben lang so extrem hochhackige Schuhe getragen habe und nun hatte sie Schmerzen, wenn sie zu flachen Tretern wechselte, deswegen waren sogar die Hauspantolettchen solche Stiegen. Auf den engen Treppen mit dem Holz könne sie aber mit den hochhackigen Schuhchen nicht laufen, also kletterte sie nur einmal am Tag runter und abends wieder hoch. Ich kann mich nicht erinnern, sie je außerhalb des Hauses gesehen zu haben, ehrlich gesagt.

Die Frau war keine 40 und hatte sich selbst in einem nicht auf ihre Bedürfnisse zugeschnittenen Haus eingesperrt mit ihren kaputten Füßchen wie eine Chinesin mit sorgsam beiseite gefaulten Zehen und Stummeln unter Seidenpantoffeln und niemand schien das irgendwie bemerkenswert zu finden. Niemand hat auch nur verstanden, was mich daran erschreckte. Bettinas Mutter war eben Bettinas Mutter, wen sollte sie kümmern - und warum?

Bettina selbst wechselte irgendwann zwischen der 9. und der 11. Klasse von der strickenden, Pastellfarben tragenden und gelockt-bis-bezopften Strebermädchentruppe zu den echt harten Supercoolen, die nur in schwarzem Leder herumliefen, aussahen wie mangelernährt (nicht unterernährt, nur schlecht) und von denen die strebsame Poppertruppe munkelte, sie würden kiffen. Der schöne Bernd war schuld an der Verwandlung. Aber den würde ich auch nicht mehr erkennen, obwohl wir in der Vorbettinazeit viele Stunden zusammen am See herumgelegen haben.

Bettinas Mutter würde ich wiedererkennen und ich ahne auch, sie ist immer noch blond onduliert auf sehr hochhackigen Tippelschuhen. Sie hatte damals schon ihr Leben angehalten und sich mit wenig Aufwand festgelegt, aber viel zu früh.

Bei einigen Menschen scheint irgendwann eine Art von Uhr stehen zu bleiben, was ihre Träume (und Schuhe und Look) angeht. Alles andere kostet eben mehr Energie.

4 Kommentare Tricks of the mind oder warum fällt mir das jetzt ein

  1. Avatar Melody 20.08.2005 um 15:07 Uhr

    Cool ist es dann ja leider in so einer Situation nicht, sondern ein gewaltiger Krampf: Sie erklären beleidigt, wer sie sind und dass wir uns seit XYZ Jahren inniglich kennen und ich durchsuche währenddessen verzweifelt die ~temp-Dateien nach Resten von Informationen ...dazu kommt noch, dass die Lücke im Verhalten und Erinnerungsvermögen furchtbar arrogant wirkt, obwohl es wirklich ‘nur’ nichtwertendes Desinteresse ist, gemixt mit einem schlechten Gedächtnis.

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