Mein aktuelles Lieblingswort: Entreprenerd

Mein aktuelles Lieblingswort: Entreprenerd 😊

Norderney im Schnee ist ein Ort zwischen den Welten. Wie Brigadoon wird es versinken und erst in 100 Jahren wieder auftauchen. Bis dahin grüßen die vermummten Gestalten auf der Strasse mich, als würden wir seit Generationen zusammen Ziegen hüten. Krabben jagen. Den Strand fegen. Whatever.

Eisig erobert der Wind meine Lungenspitzen und ich freue mich darüber. Wie ein Zombie bin ich hier vor drei Tagen hier gelandet, müde, emotionslos nach Stunden der Bahnfahrt und dem Transfer mit der Fähre - nicht einmal habe ich auch nur aus dem Fenster gesehen, so bleiern war mir um Herz und Magen. Nun sitze ich hier in einer niedlichen Zweizimmerwohnung in der Innenstadt und sehne mich danach, mitten in der Nacht durch den Schneesturm bis hin zum Meer zu laufen. Leider würde ich es wohl kaum hin und zurück schaffen, daher muss ich das verschieben.

Den ersten Tag habe ich geschlafen wie ein Stein. Am zweiten habe ich mein mobiles Büro aus der Frachtkiste entbunden. Heute abend wurde mir dann endlich klar, dass mir vermutlich so flau um die Kniekehlen war, weil ich seit meiner Ankunft nichts gegessen hatte ausser ein paar Keksen am ersten Abend.

Also stiefelte ich los, aus dem warmen Nest, runter in die eisige Kälte und auf das erste hell erleuchtete Restaurant zu. Beim Lesen der Speisekarte spürte ich Unlust, mir war nicht nach Nahrung. Also bestellte ich einen Salat mit Brot, würgte ihn runter und marschierte durch den Schnee zurück. Zehn Minuten später: Röhrender Hunger! Sehr unpraktisch. Abwarten. Liess nicht nach. Also wieder ab in die Kälte, andere Richtung diesmal, wieder in das erste helle Licht hinein. Köstliche Pizza - klar, dass ich nach einem Drittel pappesatt war. Werde mich zukünftig um etwas mehr Normalität bemühen (müssen).

15 m links ist ein Optiker - endlich werde ich die Zeit UND die Gelegenheit haben, neue Kontaktlinsen anpassen zu lassen. 20 m rechts ist eine Kosmetikerin, mit Möglichkeit zur Fußpflege. Darüber bin ich verdammt froh, ich hatte schon befürchtet, mich bis ans andere Inselende kämpfen zu müssen für die anstehenden allgemeinen Renovierungsarbeiten 😉 Ringsherum im Radius von so 200 Metern sind Geschäfte, Reinigung, Post, Souvenirläden ... weiter komme ich noch nicht so ohne weiteres, aber das ändert sich schon noch, denke ich mal.

Vor meiner Abfahrt ging es mir fast stündlich schlechter. Jeden Tag ein bisschen mehr Müdigkeit, steigendes Fieber, völlige Erschöpfung ohne einen Handschlag zu schaffen. Die Verzweiflung fing an, mir durch die Knochen zu kriechen wie ein eiskalter Hauch: So kann man nicht leben. Ich kann so nicht leben. Ständig stiess ich an Grenzen. Ununterbrochen kamen Leute an und zwangen mich dazu, Forderungen und Erwartungen abzulehnen - samt und sonders völlig ohne Verständnis dafür, dass ich kein bereitwilliger kostenloser unaufhörlich bereitwilliger Dienstleister (mehr) bin.

Es macht mich fassungslos, wie wenig es andere Leute interessiert, wenn man sagt “das kann ich nicht, es geht mir zu schlecht”. Das Arschloch-Syndrom. Und nein, es ist nicht geil, ein Arschloch zu sein, es ist minderwertig. Minderwertigkeit ist noch weniger empfehlenswert als Unterdurchschnittlichkeit oder Mittelmass. Sagen wir es mal so: Noch mehr Druck war nicht gerade das, was ich brauchte. Ich konnte noch nie gut “Nein” sagen. Jetzt kann ich es. Gezwungenermassen, denn irgendwer will ja immer irgendwas. NEIN sagen übt. Nach einigen Malen konnte ich es mir sogar wieder leisten, JA zu sagen, wenn ich es wollte. Ich will aber nicht oft.

Eine Frau hat zu mir gesagt “Wieso, du kannst doch auch Diary schreiben, dann kannst du das doch auch wohl.” Ist das nicht putzig? Beinahe wäre ich wieder darauf reingefallen. Beinahe hätte ich damit begonnen, zu erklären und zu rechtfertigen, dass ich mit meiner Kraft und Zeit beginnen kann, was immer ich will und erst ganz, ganz, ganz lange danach kommen andere Dinge. Wenn überhaupt. Dieses eine Mal allerdings habe ich etwas anderes getan. Ich habe dafür gesorgt, dass die Mails dieser Frau von jetzt an und für immer schon auf dem Server gelöscht werden und mich nicht mehr erreichen. Nennt es Mülltrennung, wenn Ihr wollt 😊

Die letzten Tage zuhause waren also ziemlich schlimm. So im Nachhinein denke ich, dass ich wahrscheinlich ins Krankenhaus gehört hätte. Andererseits, wozu. Um in einer lieblosen und schlecht durchdachten Maschinerie von Leuten betreut zu werden, die in ihrem Job komplett abgestumpft sind? Es ist nicht nachvollziehbar, ob es die langwierigen Unfallfolgen, die Überarbeitung, das Übergewicht oder die Schilddrüsenprobleme sind, weswegen es mir so oft so schlecht geht. Vorhersagbar ist allerdings, dass man sich auf das Übergewicht konzentriert hätte - in dieser Beziehung besteht unsere Gesellschaft ja fast nur noch aus Idioten. Gewicht schön und gut oder eben nicht gut, aber ich habe nicht das Gefühl, dass meine Gesundheitsprobleme am Gewicht liegen.

Ich weiß auch nicht, was ich habe. Aber ich muss kein Arzt sein, um zu wissen, dass mir ein Tapetenwechsel, Zeit für mich und das Klima am Meer gut tun werden. Wie ich es gehofft hatte, geht es mir hier im Reizklima schon nach sehr kurzer Zeit etwas besser. Die irrsinnigen Gliederschmerzen und die lähmende Erschöpfung haben aufgehört. Ebenso das Fieber. Ich bin immer noch nicht erkältet. Meine Nase ist endlich aufgetaut. My Cloud has a silver lining.

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