Gedanken, Jahresende und so weiter

Natürlich funktioniert das in beide Richtungen. Wenn ich mich abschotte, um den dringend benötigten Freiraum zu haben, muss ich immer damit rechnen, dass jemand anderes sich ebenso klar und unmissverständlich von mir abgrenzt. Das weiß ich. Und ich weiß auch, dass für manche Leute ganz normaler Arbeitsstress eine so erdrückende Dimension zugewiesen bekommt, dass er als genau so schlimm empfunden wird wie von mir der Stress in den Fieberphasen und drohende Krankheitsphasen.

Ich nehme es zur Kenntnis. Man (ich) ist nicht immer glücklich über alles, was mensch auslöst. Aber es führt kein Weg zurück und niemals schleift man (ich) ein Bedauern mit. Dazu ist das Leben zu kurz, zu bunt und zu vielfältig.

Zu schwierig natürlich auch. Beim Entrümpeln des großen Schuhschranks fand ich die vielen harten fleischfarbenen Binden und die kleinen Widerhaken. Jetzt - im Rückblick - kann ich es kaum noch nachvollziehen, wie ich das geschafft habe: Morgens aufstehen und duschen, die dunkelrot geschwollenen Beine von Oliver fest gewickelt bekommen und arbeiten, arbeiten, arbeiten. Mit Fieber, mit Schmerzen, im Liegen, mit den Füssen in einem Wasserkübel. Um zu überleben, die Existenzgründungsphase zu überstehen und lieber zu sterben, als zu den Frührentnern zu gehören. Warum war das so wichtig? Warum kann ich nicht den laschen, lahmen, einfachen und handelsüblichen Weg gehen und mich krank schreiben lassen, durchhängen, abjammern, mich wegjaulen und mir leid tun und einfach gar nichts mehr machen, weil/wenn ich schwer krank bin?

Weil das nicht ich bin. Ich habe noch niemals jemanden erlebt, der sich wie eine Zecke verhält und dabei glücklich ist. Niemand kann erfolgreich, ein guter Partner und/oder zufrieden sein, der nichts selbst und mit eigenen Kräften erreicht. Es sei denn, er/sie hat keine nennenswerten Ansprüche oder nix zu bieten. Hätte ich aufgegeben, hätte ich mich aufgegeben. Womit ich nicht sagen will, dass das schlau war - so krank so viel zu arbeiten. Ich werde diese Entscheidung dann auch gerne mit jedem diskutieren, der vergleichbare Erfahrungen gemacht hat, ebenfalls nicht den leichtesten Weg gegangen ist und weiß, wovon ich rede.

Aber ich kann nicht versprechen, dass ich es nicht noch mal tue: Krank arbeiten. Manchmal ist das Leben einfach so.
😊

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Es war einmal ... vor nicht allzu langer Zeit oder vielleicht vor vier oder fünf Jahren eine junge Frau, die an einem Silvesterabend feststellte, dass sie absolut angenervt war ... von dem Champagner, der zu warm war. Sie stand mit der Flasche in der Hand wie schon viele Male bei festlichen Gelegenheiten, sah ein böses Stirnrunzeln in der Spiegelung der Fensterscheibe und erschrak, als sie sich selbst erkannte. Wie Türen öffneten sich die Wege vor ihr, die sie in ihre Zukunft gehen konnte: Sie konnte beispielsweise eine missgünstige verwöhnte Ziege werden, die anderen Anwesenden und Gästen mit solchen Details wie der perfekten Temperatur eines Getränks gründlich auf den Nerv ging. Auch könnte sie zur kulturlosen Hausfrau absinken, die Champagner falscher Temperatur mit plumpen Witzen garnierte. Oder eine weinerliche früh Gealterte werden, die sich in innig erstickender Umarmung am Universum festklammerte und es mit einer Dankbarkeit für den Reichtum der westlichen Welt zu überschütten suchte - man bedenke nur die Kinder in der Dritten Welt, wie froh sie über Champagner egal welcher Temperatur wohl wären?

Oder sie konnte den Champagner zurück in den Kühlschrank stellen, damit er um Mitternacht wenigstens ein wenig kühler war als jetzt. Sich freuen, dass man sich so verwöhnen konnte, gelegentlich. Die Normalität mit beiden Händen willkommen heissen. Dankbar zur Kenntnis nehmen, dass die genervte Stirnfalte verschwunden war und nicht zum Standard-Gesichtsausdruck gehörte. Die Party bei dem Kollegen absagen, der sie sowieso nur eingeladen hatte, weil sie “Bücher schrieb” und wo jedes der langweiligen Gespräche sich um große Autos, alberne Handys und blöde Aktien drehte und die Männer flache und austauschbare karrieregeile Gesichter hatten. Eine fette Katze aus der Bügelwäsche zerren und sich selbst hineinlegen. Tief durchatmen. Wieder wissen, welcher Weg zur Liebe führt. Der Welt ein gutes Neues Jahr wünschen. Und niemals so tief sinken, dass die Temperatur von Champagner oder das Image eines Autos von Bedeutung sind.

Amen, sagte der dicke blonde Kater. Oder vielleicht hatte er auch nur gegähnt.

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